Direkt zum Inhalt

Radkralle oder Turbolader?

Standards und Zertifizierungen erhitzen regelmäßig die Gemüter in der Sicherheitsbranche – die einen preisen sie als wertvolles Instrument zur Orientierung und Qualitätskontrolle, die anderen geißeln sie als Kostentreiber und Innovationsbremse. Was also dem einen der Turbolader für den Markt ist dem anderen die ungeliebte Radkralle am Wagen.

Die Diskussion während des PROTECTOR Forums Zutrittskontrolle 2015 bemüht sich, abseits dieses Schwarz-weißdenkens die wichtigen Grautöne herauszuarbeiten. Dabei sind die Ansätze und Perspektiven von klassischen Richtlinien wie VdS oder Normen wie DIN/EN durchaus andere als die von neueren Bestrebungen in Form von NFC, SOAA, Onvif und Co.

Moderator Boris Stamm weist am zweiten Tag noch einmal auf den bereits am Tag zuvor thematisierten Bedeutungsschwund der VdS-Richtinie hin und fragt eingangs: „Ist die von einigen zum Quasi-Standard erhobene VdS-Richtlinie heute in der Praxis noch von Bedeutung? Oder taugt sie in der Rückschau sogar als Negativbeispiel, wie man es nicht machen sollte?“

Bernd Lesemann von Opertis ist in Sachen Relevanz zurückhaltend: „Was die Anforderungen an Zutrittsanlagen angeht, findet sich insbesondere der VdS heute wenig bis gar nicht wieder. Man liest den Verweis auf die Richtlinien zum Einbruchschutz zwar selten noch in Ausschreibungen, aber ob diese in den Anlagen letztlich auch umgesetzt werden, ist eine andere Frage. Und im Grunde taucht der VdS nur noch in Verbindung mit Einbruchmeldeanlagen auf.“

Dem stimmt Dietmar Vetten von GST zu: „Bei uns spielt VdS bei Zutrittssystemen fast keine Rolle, auch nicht in Ausschreibungen, die wir auf dem Tisch hatten. Bei der Planung von EMA wird zumindest immer noch gefragt: Werden nach VdS zugelassene Komponenten verbaut? Dabei wird aber nicht berücksichtigt, ob die komplette Anlage gemäß VdS errichtet wird. Das mag auch daran liegen, dass diese Zertifizierung am Ende die Funktionalität der Anlage bremsen würde.“

Voll in die Eisen?

Anzeige

Damit wurde schon ein viel bemühtes Gegenargument in Bezug auf Standards angesprochen: die Bremswirkung. Bernd Lesemann erklärt: „Oft bilden Standards nicht den aktuellen Stand der Technik ab, weil sie schlichtweg veraltet sind. Ebenso geht es den zertifizierten Geräten: Sie werden einmalig geprüft und attestiert, dann ist der Stempel drauf, und das Produkt wird nie wieder angerührt. Denn sonst hätte man erneutden hohen Aufwand der Neuvorstellung und der Gerätezertifizierung. Das hieße in der Praxis doppelten Aufwand an Zeit und Geld – der Kunde weiß dies zudem oft nicht zu schätzen.“

Trotz aller Standardisierungs-bestrebungen braucht man in der Praxis heute immer noch Schnittstellen, die oft kostspielig geschaffen werden müssen. Vielleicht wird sich das künftig ändern, weil sich SOAA und Onvif in der Breite durchsetzen. Aber im Moment tauchen meist noch Probleme auf, wenn man im Projekt beispielsweise Online- und Offline-Komponenten zweier Hersteller miteinander mischen will.
Dietmar Vetten, Vertrieb, GST Gesellschaft für Sicherheitstechnik mbH

Aus meiner Sicht ist SOAA ein vernünftiger Ansatz und führt in die richtige Richtung. Leider gibt es noch zu wenig SOAA-kompatible Lösungen und Komponente. Ein echter Wettbewerb existiert noch nicht. Aber wenn ich als Anwender heute eine Ausschreibung machen würde, würde ich SOAA als Alternative zu einer proprietären Lösung mit ausschreiben.
Volker Kraiss, Senior Consultant, Kraiss & Wilke Security Consult GmbH

Volker Kraiss von Kraiss Consult ergänzt: „Es ist doch so, dass der VdS seine Richtlinien den jeweils gültigen Normen anpasst und teils individuell durchaus sinnvoll ergänzt beziehungsweise abändert. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass VdS-Richtlinien keine Normen sind und nur in Einzelfällen wirklich verbindlich sind. Sie zu berücksichtigen, kann in Einzelfällen allerdings durchaus sinnvoll und hilfreich sein.“

Kurz und knapp sind somit die wesentlichen Hemmnisse althergebrachter Standards genannt: Sie sind meist schon bei der Einführung überholt, im weiteren Verlauf viel zu starr und in der Umsetzung für die Anbieter meist zu teuer, um sie flächendeckend auf ein Produktportfolio anzuwenden. Doch davon unberührt bleiben die positiven Aspekte, die Standards verwirklichen sollen und auch können, wenn sie von allen Seiten unterstützt und in den Markt getragen werden. Im Wesentlichen sind dies Vergleichbarkeit, Interoperabilität, Investitionsschutz, Internationalisierung und Modernisierung. Dies soll auch mit einigen neuen Standards auf Geräte- und Protokollebene erreicht werden. So beschäftigte sich der Löwenanteil der Diskussion mit den recht unterschiedlichen Standards NFC, SOAA und Onvif sowie dem Echo, welches sie bisher am Markt hervorrufen – oder auch nicht.

Alles neu und besser?

Diese neuen Standards und Zertifizierungsansätze wollen es besser machen als der VdS und mehr Relevanz in der Praxis erreichen. Doch haben sie das Zeug dazu? Moderator Boris Stamm fühlt den Teilnehmern auf den Zahn: „Wie sind Ihre Erfahrung des vergangenen Jahres, wird NFC von den Kunden und Partnern nachgefragt? Wie sind die Reaktionen darauf?“

Harald Gilleßen von Gretsch-Unitas muss differenzieren: „Nachfragen zu NFC erhalte ich schon, aber bisher nur von meinen Kollegen im Außendienst. Die möchten gerne wissen, was es damit auf sich hat. Aktuell kenne ich aber noch keinen Kunden, der NFC als Technologie einsetzen möchte. Zumindest kommt es nicht explizit zur Sprache, vielmehr fragt er nach einer komfortablen Lösung, wie man das Handy als Medium nutzen kann. Dennoch gibt es im Markt natürlich eine gewisse Erwartungshaltung, weil das Thema überall präsent ist.“

Polichronis Sidiropoulos von Assa Abloy sieht die Anzeichen ebenfalls: „Im Markt herrscht derzeit eine gewisse positive Unruhe, was das Thema NFC angeht – dies bestätigt auch unsere Vertriebsmannschaft. Verstärkt wird das Ganze sicherlich auch dadurch, dass mittlerweile mehr und mehr mobile Endgeräte die NFC-Technologie unterstützen. Dennoch bedarf es noch einiges an Klärung, speziell in Zusammenhang mit dem Geschäftsmodell – damit steht und fällt das Ganze.“

Volker Kraiss gibt sich ebenfalls zurückhaltend: „Von Seiten unserer Kunden gab es im letzten Jahr keine einzige wirklich ernsthafte Anfrage zu NFC. In Verbindung mit den sicherheitskritischen Geschäftsprozessen ist der Sicherheitsstandard der App-basierten Lösungen auch nicht ausreichend. Wirklich sichere Lösungen werden aus kommerziellen Gründen leider noch nicht angeboten. Wir warten noch darauf, dass eine neutrale Stelle eine Studie zum Thema Sicherheit von NFC durchführt, in der vor allem die Anwendbarkeit für die professionelle Zutrittskontrolle unter verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet wird.“

Hemmnisse im Markt

Doch wie Dietmar Vetten anmerkt, bedeuten konkreten Nachfragen aus dem Markt noch lange nicht, dass Projekte mit NFC auch umgesetzt werden können: „Wir hatten im letzten Jahr tatsächlich drei Anfragen, die ganz konkret NFC einsetzen wollten. Bei ersten ging es um Bankberater, die mit den Blackberrys per NFC Türen öffnen sollten. Das Problem war jedoch, dass die Geräte NFC nicht unterstützten. Dann hatten wir eine Anfrage von Nokia und Microsoft, die in ihren Telefonen NFC integriert haben. Auch hier sollte ein Pilotprojekt in Sachen Zutritt gestartet werden, doch es gab erhebliche Schwierigkeiten mit den Mobilfunk-Providern und dem sicheren Zugang zur SIM-Karte. Das Dritte war ein großes Institut in Deutschland, welches gerne NFC-Vorreiter sein wollte. Wir haben mit zwei Herstellern gesprochen, die dort die Zutrittskontrolle geliefert hatten, und eine Projektgruppe gebildet. Doch das Fazit war: Der Markt ist noch nicht so weit, wir können es nicht umsetzen.“

Hartmut Beckmann von Uhlmann & Zacher versucht daher, das Thema mobiler Zutritt vom NFC-Standard zu lösen: „Das Smartphone wird in naher Zukunft sicherlich noch stärker zum Einsatz kommen. Neben NFC oder Bluetooth wird die steigende Verbreitung mobiler Zutrittslösungen vielleicht auch mit dem Thema Cloud zusammenhängen. Vor allem, wenn ein Öffnungsbefehl aus größerer Entfernung an die Tür gesendet werden soll. Hier kann die Einbindung einer Cloud für die notwendige Grundlage sorgen.“

1 - 2 nächste Seite

Passend zu diesem Artikel