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Verkehrsnetze 17. Mai 2016

Das System im Blick

In der Vergangenheit hat es immer wieder Anschläge auf den öffentlichen Personenverkehr gegeben. Gerade weil diese Ziele vermeintlich leicht zu treffen sind, stellt sich die Frage, wie sich Maßnahmen zum besseren Schutz entwickeln lassen. Das Projekt „Rikov“ will hier Lösungsansätze präsentieren.

Videoüberwachung auf Bahnhöfen ist eine der Standardmaßnahmen zum Schutz von Personen undObjekten.
Videoüberwachung auf Bahnhöfen ist eine der Standardmaßnahmen zum Schutz von Personen undObjekten.

Die jüngsten Anschläge auf kritische Infrastrukturen wie das Transportwesen (Flughafen, U-Bahn) in Brüssel haben gezeigt, dass sich Terroristen derzeit verstärkt Ziele aussuchen, bei denen es möglichst viele Opfer geben kann und die vergleichsweise einfach zugänglich sind. Der öffentliche Personenverkehr ist naturgemäß ein offenes „System“, da es quasi allen Personen gleichermaßen zugänglich sein muss, will es effektiv arbeiten.

„Diese Vulnerabilität ist in den letzten Jahren relativ gleich geblieben, aber die Bedrohungslage hat sich geändert, auch in Abhängigkeit der potenziellen Täter und ihren Zielen“, erläutert Dr. Martin Zsifkovits vom Institut für Theoretische Informatik, Mathematik und Operations Research der Universität der Bundeswehr München, der Projektleiter von Rikov, unter Führung von Prof. Stefan Pickl. Gerade die Anschläge der letzten zwölf Monate haben gezeigt, dass hohe Opferzahlen im Fokus von Terroristen stehen, weswegen andere Bereiche kritischer Infrastrukturen, wie die Wasser- oder Energieversorgung bislang nicht eine vergleichbare Bedrohungslage aufweisen.

Gefahrenanalyse

Im Rahmen des Verbundprojekts Rikov haben verschiedene Institute, Unternehmen und Verkehrsbetreiber zusammen unter Führung des Lehrstuhls für Operation Research an der Universität der Bundeswehr München nach einem ganzheitlichen Ansatz eines Risikomanagements für den schienengebundenen öffentlichen Personenverkehr geforscht.

Kern des Projekts ist der Aufbau eines Systems, anhand dessen sich mit Hilfe verschiedener Parameter Risiken, Konsequenzen, Kosten und mögliche Abwehrmaßnahmen bewerten und identifizieren lassen.

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Hierzu wurden zunächst die möglichen Bedrohungen des öffentlichen Personenverkehrs analysiert, in denen auch Faktoren wie Anschlagsmittel, Ziele und Wege eingeflossen sind. Diese Szenario-Datenbank wurde anschließend genutzt, um Schäden, unterteilt in unmittelbare und mittelbare Personenschäden sowie volkswirtschaftliche und betriebliche Schäden, zu benennen.

Gleichzeitig wurden auch die Kosten möglicher Sicherheitsmaßnahmen erfasst, sowohl was die Beschaffung als auch den Unterhalt solcher Systeme angeht. Bei der Szenario-Entwicklung kommen auch spieltheoretische Analysen zum Einsatz, um die Wechselwirkung von Sicherheitsmaßnahmen und der sich darauf einstellenden Akteure zu berücksichtigen.

Reale Testumgebung und Simulation

Um die aus den Analysen gewonnen Daten zu testen, wurde zusammen mit einem Verkehrsbetrieb einer deutschen Großstadt eine Übung absolviert. Ziel war es unter anderem, die Wirkung von präventiven Sicherheitsmaßnahmen zu bestimmen. Diese zielten zum einen auf das Erkennen des Täters und der Angriffsmittel ab, zum anderen auf die Frage, wie oft die Sicherheitsmaßnahmen diese Erkennung bewerkstelligen und wie viele Fehlalarme produziert werden.

In Deutschland baut die Deutsche Bahn ihre Videoüberwachung auf Bahnhöfen aus. In den kommenden Jahren sollen rund 85 Millionen Euro in Modernisierung und Ausbau von Videotechnik an Bahnhöfen und Zügen investiert werden. Derzeit sind etwa 700 Bahnhöfe mit rund 5.000 Videokameras ausgestattet.

Zudem sind bislang 26.000 Videokameras in Regionalzügen und S-Bahnen eingebaut. 80 Prozent der Fahrgäste in den Bahnhöfen sollen so überwacht werden. Ebenso soll an großen Bahnhöfen die Überwachung mit neuen Technologien optimiert werden.

Die Ergebnisse flossen zusammen mit Daten zu verschiedenen Sicherheitsmaßnahmen wie „Durchgangs-metalldetektor“, „Flüssigkeitsanalyse-gerät“ und „Schuhscanner“ in eine Datenbank. Geklärt werden sollte auch, inwieweit Sicherheitssysteme potenzielle Angriffe entdecken können und wie ein effektives Krisenmanagement aussehen könnte.

Hierzu wurde die Versorgung von Personen nach einem Anschlag simuliert, unter Beteiligung der Polizei, Feuerwehr und Einheiten des Katastrophenschutzes. Hierbei stand die Effektivität der Behandlung von Verletzten und die Bewältigung der Krise im Vordergrund. Die Ergebnisse wurden ebenfalls in einer Datenbank festgehalten.

Eine weitere Erkenntnis aus der Übung betrifft das Verhalten von Personen in Notsituationen. Die Bewegungsmuster der teilnehmenden Personen wurden erfasst und in einer Simulation reproduziert.

Die Personenströme haben unmittelbaren Einfluss auf die Gestaltung von passiven Sicherheitsmaßnahmen wie Flucht- und Rettungswege, aber auch auf mögliche aktive Maßnahmen, etwa Durchsagen und den Einsatz von Personal vor Ort. Neben Personenströmen lassen sich in Simulationen auch komplexe Szenarien abbilden, die bereits mit dem Verhalten des Attentäters, der einen Anschlag durchführen will, beginnt.

So wurde für Rikov ein stark frequentierter Bahnhof simuliert, der durch verschiedene Sicherheitsmaßnahmen geschützt ist. In dieser agentenbasierten Simulation werden Anschlagsszenarien simuliert und die Effektivität diverser Sicherheitsmaßnahmen sowie deren Interdependenzen getestet.

Die Darstellung wurde dabei in einem 3D-Umfeld realisiert. Der große Vorteil bei der Simulation ist, dass durch die Änderung der Parameter, wie der Weg der Akteure, Zeitpunkt des Angriffs sowie seiner Entdeckung, verschiedene Abläufe und Ergebnisse möglich sind. Mit einer ausreichend großen Zahl an Simulationen lassen sich somit valide Aussagen treffen, unter welchen Bedingungen Sicherheitssysteme besser oder schlechter funktionieren und Schwachstellen aufdecken.

Rechtliche Fragen

Während Simulationen und die Analyse von Schadensereignissen Aufschluss geben, ob bestimmte Sicherheitsmaßnahmen gegen ausgesuchte Bedrohungen erfolgreich sein können, gilt es auch, die Akzeptanz solcher Maßnahmen zu prüfen. Hierbei spielen zunächst einmal die rechtlichen Voraussetzungen eine Rolle, was überhaupt an Maßnahmen erlaubt ist und was nicht.

Während es für die „klassischen“ Sicherheitsmaßnahmen wie Videoüberwachung oder Metalldetektoren entsprechende Vorschriften und Rechtsgrundlagen gibt, sieht das für neuere Systeme unter Umständen anders aus.

Bevor etwa eine „intelligente“ Videoüberwachung mit Gesichts- und Mustererkennung, Videodrohnen oder Körperscanner eingesetzt werden dürfen, müssen für solche Systeme und ihre Verwendung die Rechtsgrundlagen erarbeitet werden. Ihr Einsatz, wenn auch für die Abwehr von Gefahren geeignet, muss also zunächst rechtlich abgesichert sein.

Dabei ist festzustellen, dass die Anforderungen an die entsprechende Norm höher liegen, je intensiver der Eingriff des Systems, beispielsweise bei Körperscannern oder Analysesoftware für Bewegungsmuster, in die persönliche Freiheit angesehen wird.

Akzeptanz in der Bevölkerung

Abgesehen von den rechtlichen Voraussetzungen müssen Sicherheitsmaßnahmen auch von der Bevölkerung akzeptiert werden. Je nach Maßnahme kann dies einfacher oder schwieriger sein, wenn das Gefühl entsteht, in der persönlichen Freiheit eingeschränkt zu werden. Im Rahmen es Rikov-Projektes wurde diese Frage in drei Ansätzen ebenfalls untersucht.

Für Deutschland lässt sich aus den Ergebnissen ableiten, dass die Akzeptanz von Maßnahmen wie Videoüberwachung im Wesentlichen vom Zweck und Ort abhängt und ob es ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis gibt. Letzteres ist durchaus variabel, bei gerade erfolgten Anschlägen ist es erwartungsgemäß höher. „Die Akzeptanz von Maßnahmen in der Bevölkerung ist sehr ereignisbasiert“, resümiert Zsifkovits.

Im Rahmen des Projekts „Pact“ der Rand Corporation wurde eine ähnliche Analyse für die Sicherheit im Personenverkehr auf europäischer Ebene durchgeführt, mit durchaus unterschiedlichen Präferenzen in den einzelnen Mitgliedstaaten. Im Rahmen der Studie wurden europaweit über 12.000 Personen befragt, die 120 Fragen zu Themen wie Videoüberwachung, Sicherheitspersonal und Kontrollen beantworteten.

Allgemein akzeptieren alle Befragten Videoüberwachung auf Bahnhöfen und in U-Bahnen. Bereits bei der Frage, welche Art von Videoüberwachung akzeptiert wird (Gesichtserkennung) zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede. So lehnen die Schweden solche Technologien ab, während die Befragten in den übrigen Staaten sie akzeptieren, vor allem in Frankreich.

Die deutschen Befragten lehnen wiederum den Einsatz bewaffneter privater Sicherheitsdienste ab, ebenso wie Großbritannien. In Deutschland stoßen auch Sicherheitskontrollen wie auf Flughäfen auf Widerstand, auch in fast allen übrigen Ländern stößt diese Maßnahme nicht auf Akzeptanz.

Genau abwägen

Das Rikov-Projekt veranschaulicht die Problemlage, vor der Entscheider in Bezug auf Sicherheitsmaßnahmen stehen: Ein Mehr an Sicherheit verursacht Kosten, die investiert werden müssen, und die unter Umständen letztlich der Fahrgast trägt. Allein schon deshalb müssen die Maßnahmen von den Nutzern eines Systems wie dem öffentlichen Personenverkehr akzeptiert sein, ansonsten würden die Maßnahmen bei Widerstand ins Leere laufen.

Projekte wie Rikov können helfen, ein ganzheitliches Verständnis für die Risiken und deren Abwehr basierend auf einer Kosten-Nutzen-Analyse hinsichtlich der Gegenmaßnahmen und deren Akzeptanz zu entwickeln. Szenarien und Simulationen erlauben es, Schwachstellen zu identifizieren und, basierend auf den Risiken, Sicherheitsmaßnahmen zu testen und damit ihre Wirkung zu optimieren.

Hendrick Lehmann

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