Direkt zum Inhalt

Den Durchblick bewahren

Auf der Security in Essen konnten sich die Fachbesucher erstmals über die neue Partnerschaft zwischen dem Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) und dem BDSW informieren. Zentrales Exponat: der digitale Lagetisch.

Dr. Andreas Meissner ist Leiter Geschäftsentwicklung zivile Sicherheit des Fraunhofer-Instituts für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung.
Dr. Andreas Meissner ist Leiter Geschäftsentwicklung zivile Sicherheit des Fraunhofer-Instituts für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung.

Über die Ergebnisse der Zusammenarbeit und weitere gemeinsame Projekte sprach W&S mit Dr. Andreas Meissner, Leiter Geschäftsentwicklung zivile Sicherheit des IOSB, Karlsruhe.

W&S: Sie kooperieren jetzt seit knapp einem Jahr mit dem BDSW. Was war zuerst da: Lagetisch oder Kontakt zum BDSW?

Dr. Meissner: Sowohl der Lagetisch als auch der Kontakt zum BDSW haben sich über einen längeren Zeitraum hinweg zu dem entwickelt, was wir heute sehen. Der „digitale Lagetisch mit Fovea-Tablett“, wie er vollständig heißt, entstand in seiner Urform vor etwa acht Jahren; die Kooperation mit dem BDSW hat ihre Wurzeln in Vortragskontakten vor etwa vier Jahren.

W&S: Welche Anforderungen wurden bei Entwicklungsbeginn an den „neuen“ Lagetisch gestellt?

Dr. Meissner: Den Lagetisch haben wir in vielen Stufen immer weiter entwickelt. Geblieben ist die Idee, dass ein Team sich in einer Gruppenentscheidungssituation um den Lagetisch versammelt, und dass jeder mit seinem Fovea-Tablett, das ist ein dem Lagetisch aufgelegter persönlicher Tablet-PC, die für ihn relevanten Informationen zur aktuellen Lage erhält, ohne sich von der gemeinsamen Gruppensicht lösen zu müssen.

Anzeige

W&S: Das klingt einfach; dahinter verbirgt sich aber doch sicher eine Menge komplexer Technik?

Dr. Meissner: In der Tat: Unsere neue „Ivig“-Architektur, das Kürzel steht für „Interaktive Visualisierung integrierter Geodaten“, ersetzt heute das früher starre und proprietäre Hardware-Software-System durch eine offene Architektur, in der wir mit unserer Lage-Software eine Vielzahl verschiedener Hardware-Plattformen bedienen können: Smartphones, Workstations, eine Lagewand und ein Tischdisplay und damit den eigentlichen Lagetisch im Sinne der Hardware.

Damit profitieren die Nutzer sowohl im Lagezentrum als auch draußen im Einsatzgebiet durchgängig von unserer Lösung zur integrierten Lagedarstellung. Zudem haben wir streng auf Standardkonformität geachtet, wir sind OGC-ISO-konform und folgen den Inspire-Richtlinien der EU für Geodaten. Das ist ganz wichtig für die inhärent verteilte Natur von Einsätzen in der Gefahrenabwehr, bei denen ja viele unterschiedliche Player zusammenarbeiten müssen.

Zu den bautechnisch sichtbaren Neuerungen zählen außerdem die Gestik-Interaktion, was eine „natürliche“ Nutzung ermöglicht, und die Erweiterung der Lagetisch-Familie um Modelle auf Basis von großen horizontalen LCD-Touchscreens anstelle der ursprünglichen Beamer-Spiegel-Rückprojektionskonstruktion. Auch ist unser Vertikaldisplay jetzt stereofähig.

W&S: Sie scheinen eine präzise Vorstellung von den Abläufen in einer Sicherheitszentrale zu haben. Für welches Szenario genau wurde der Tisch entwickelt?

Dr. Meissner: Die grundsätzliche Idee ist, das wir in einem Gefahrenabwehrszenario die Kartendarstellung mit vielerlei Fachdaten in einem Bild zusammenfügen wollen, das die Nutzer im Team auf einen Blick wahrnehmen können. Solche Fachdaten kommen beispielsweise von Online-Sensoren aller Art. Beispiel: Wenn die Polizei einen VIP-Transfer vom Flughafen zu einem Konferenzzentrum im Stadtzentrum arrangieren will, müssen die Verantwortlichen in einer sehr dynamischen Lage ständig den Überblick behalten und Fahrzeugpositionen, Verkehrsflussdaten, Meldungen über ungewöhnliche Wahrnehmungen aktuell verfolgen, zusätzlich aber auch Überwachungskamera-Videoströme live einsehen. Letztere werden beim Lagetisch auf das Vertikaldisplay eingespielt, das die integrierte Karten- und Fachdatendarstellung auf dem Horizontaldisplay ergänzt.

W&S: Ein solches Szenario ist sehr komplex. Eignet sich der Tisch dann eher für die Überwachung ausgedehnter Liegenschaften oder auch zur Steuerung eines kleinräumigen Einsatzes?

Dr. Meissner: Sowohl als auch. Wir skalieren von kleinen bis zu großräumigen Lagen und unterstützen ja verschiedene Hardwareplattform vom Smartphone bis zur Lagewand. Jetzt gerade sind wir dabei, das Führen vor Ort in der Weise umzusetzen, dass wir einen Lagetisch in unser neues mobiles Lagezentrum integrieren, das wir als Lkw-Plattform auf der Security-Messe in Essen erstmals vorstellten. Auf der internationalen Iscram-Konferenz für Krisenmanagement, die wir co-organisieren, werden wir dazu im Mai 2013 eine umfassende Demo zeigen.

W&S: Welchen Einfluss hat der BDSW dann auf die Entwicklung des Lagetischs genommen? Musste vieles modifiziert werden?

Dr. Meissner: Der BDSW ist in Vorträgen und auf Messen auf den Lagetisch aufmerksam geworden, und wir sind – zunächst formlos und heute im Rahmen der strategischen Kooperation – in einen Dialog eingetreten, um den Bedarfen der Sicherheitsdienstleister in möglichst großem Umfang zu entsprechen. Da der Lagetisch heute eher eine „Familie“ als ein Monolith ist, waren keine grundlegenden Modifikationen erforderlich.

W&S: In einer Sicherheitszentrale geht es oft stressig zu. Gibt es „Hilfsmittel“ für die Mitarbeiter, in der ganzen Informationsmenge noch den Durchblick zu bewahren?

Dr. Meissner: Ja, damit treffen Sie den Kern. Das Hilfsmittel ist zunächst der Lagetisch selbst, genauer: der im Lagetisch konsequent umgesetzte Ansatz, den Mitarbeitern eine adaptive Mensch-Maschine-Schnittstelle zu bieten, mit der sie einen möglichst geringen Anteil ihrer Denkkapazität für die System-Interaktion aufwenden müssen, und einen möglichst großen Anteil für ihre eigentliche Entscheidungsaufgabe behalten. Dazu liefen bei uns umfangreiche Forschungsarbeiten, deren Ergebnisse in den Lagetisch eingeflossen sind.

Wer sich eine Sicherheitszentrale vorstellt, sieht unzählige Monitore, auf denen Kamerabilder auflaufen. Als Institut für Bildauswertung befassen wir uns natürlich auch mit der Frage, wie man solche Videoströme automatisch und intelligent derart vorauswerten kann, dass die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter nur noch im Ausnahmefall, aber nicht mehr im Leerlauf, auf die Monitore gerichtet werden muss – auch damit beugt man Stress vor, wenn mal viel los ist.

Für Videoauswertung haben wir sehr leistungsfähige Verfahren entwickelt, die – wie im Fraunhofer-Kooperationsmodell typisch – in Industrieprodukte eingebettet wurden. Manchmal ist also Fraunhofer IOSB „drin“, auch wenn es nicht, wie beim Lagetisch, draufsteht.

W&S: Werden dazu denn „Praxistests“ durchgeführt? In welcher Form fließen Erfahrungen von Mitarbeitern in Sicherheitszentralen ein?

Dr. Meissner: Der Lagetisch ist an verschiedenen Stellen in praktischer Erprobung. Schon vor einigen Jahren hatten wir zum Beispiel in einer großangelegten Nato-Übung den Lagetisch mit anderen Systemen vernetzt, und die Rückmeldungen der Offiziere waren wertvolle Hinweise für die Weiterentwicklung, von denen nun auch zivile Nutzer profitieren können.

Auf der zivilen Seite sind wir neben der BDSW-Partnerschaft, in deren Rahmen unseren Wissenschaftlern unter anderem Hospitationen in Leitstellen angeboten werden, in engem Kontakt mit Feuerwehren und Polizei.

W&S: Gibt es weitere Technik, die gerade bei der Überwachung von Großereignissen die Mitarbeiter in der Zentrale mit zusätzlichen Informationen versorgt?

Dr. Meissner: Das Fraunhofer IOSB versteht sich als Institut, das die gesamte Kette von der Sensordatenakquise vor Ort über die Auswertung und Fusion bis hin zur Entscheidungsunterstützung auf oberer Ebene abbildet. Konsequenterweise haben wir den Lagetisch mit unserem System Amfis zusammengeschaltet, einem Planungs-, Steuerungs- und Auswertesystem für Überwachungsmissionen mit mobiler Sensorik am Boden und in der Luft. Amfis, das in der Informationsflusshierarchie unterhalb des Lagetischs angesiedelt ist, kam in den letzten Jahren bei einer Reihe von Großveranstaltungen zum Einsatz, so beim jährlichen Event „Das Fest“ bei uns vor der Haustür in Karlsruhe.

Außerdem ergänzt sich unser „Smartcontrolroom“ mit dem Lagetisch ideal: Der Raum weiß über installierte interne Kameras jederzeit genau Bescheid darüber, was sich in ihm abspielt: Wer steht wo, mit wem zusammen, wer schaut wohin, wer zeigt auf welches Objekt auf dem Display. Entsprechend werden Darstellungsort, Inhalt und Format der Informationen situationsgerecht angepasst. Ich gebrauche als Vision manchmal das Bild des ins Rotieren geratenen Krisenstab-Mitarbeiters, den der Raum im Sinne einer „internal situational awareness“ wahrnehmen würde, um dann die ihm präsentierte Informationsdichte anpassen zu können.

Unsere CSD-System schließlich erlaubt es, in einer komplexen Gefahrenabwehrsituation die Informationen der vielen beteiligten Behörden und Sicherheitsdienstleister so zu sammeln und zu integrieren, dass man in einem ausgeklügelten Zugriffskonzept gemeinsam davon profitieren kann. Der Lagetisch ist so eine Art Schaltstelle dafür.

W&S: Auf der Security konnten Sie das Ganze ja dann präsentieren. Wie war denn die Resonanz der Besucher? Hatten Sie eher Interessenten aus dem Behördenbereich oder der privaten Wirtschaft?

Dr. Meissner: Der Lagetisch auf dem BDSW-Stand war auf der Security-Messe unser mit Abstand am stärksten frequentiertes Exponat. Wir hatten von Besuchern, die einfach nur staunten, bis hin zu solchen, die sehr konkret fragten, wie der Lagetisch sich in ihre eigene Aufgabenwelt integrieren könne, eine breite Palette. Sowohl aus dem Behörden- als auch aus dem Privatwirtschaftsbereich kamen Interessenten, mit einem leichten Übergewicht auf Ersteren.

W&S: War dieses Projekt jetzt eine „Eintagsfliege“ oder gibt es weitere? Steht noch etwas auf dem „Wunschzettel“ des BDSW?

Dr. Meissner: Die Kooperation mit dem BDSW ist auf mehrere Jahre angelegt, und natürlich bleiben wir nicht stehen. Aktuell zum Beispiel definieren wir ein gemeinsames Projekt „Leitstelle 2025“, in dem wir aufzeigen wollen, wohin sich die Leitstelle eines privaten Sicherheitsdienstleisters im nächsten Jahrzehnt in Gestaltung und Funktion entwickeln könnte, um neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Sie sehen, es bleibt spannend!

Interview: Annabelle Schott-Lung

Passend zu diesem Artikel