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Fernerkundung 7. Juni 2012

Der Blick von ganz oben

Als die Gemini- und Apollo-Raumschiffe Mitte der 1960er Jahre erstmals Fotos lieferten, auf denen der blaue Planet als Ganzes statt nur in Ausschnitten zu sehen war, schlug die Geburtsstunde der modernen Fernerkundung (FE). Enthusiasten sprachen seinerzeit von der „dritten Entdeckung der Erde aus dem All“.

Eine Vielzahl von Satelliten umkreist die Erde. Viele von ihnen dienen der Fernerkundung.
Eine Vielzahl von Satelliten umkreist die Erde. Viele von ihnen dienen der Fernerkundung.

Die Hightech-basierte Sensorik aus der Ferne ist für öffentliche Planungsaufgaben, den Katastrophen-, Küsten-, Klima- und Umweltschutz, aber auch für die Wirtschaft von hoher Relevanz. Lao-Tse („Nur aus der Entfernung sieht man klar“) und Antoine de Saint-Exupéry („Um klar zu sehen, genügt ein Wechsel der Blickrichtung“) erkannten, vermutlich ohne es zu ahnen, schon früh das Grundprinzip von FE-Systemen. Kurz formuliert ist FE die „berührungsfreie“ Aufklärung und Überwachung der gesamten Erdoberfläche (Landmassen und Ozeane) sowie der Atmosphäre. Aus bescheidenen Anfängen hat sich Technologie etabliert, die das quadratzentimetergenaue Scannen jedes beliebigen Teiles der Welt ermöglicht. Die Bodenauflösung ist inzwischen derart optimiert, dass für stadt- und verkehrsplanerische Zwecke einzelne Fahrzeuge erkennbar sind, so Dr. Karl-Peter Traub, Professor im Studiengang Geomatik der Hafencity Universität Hamburg, gegenüber W&S.

Rasante Entwicklung

Kaum ein anderes technologisches System hat seit den 1960er Jahren eine ähnlich rasante Entwicklung genommen wie die neuzeitliche Fernerkundung. Noch heute werden nahezu im Wochentakt neue Entwicklungen und Verbesserungen vorgestellt. Dennoch, so Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich, beim 1. Strategie-Forum „Chancen und Möglichkeiten der Fernerkundung für die öffentliche Verwaltung“ (Oktober 2011 in Oberpfaffenhofen) „stehen wir, trotz interessanter Fortschritte in der operativen Nutzung (…), erst am Anfang“.

Mega-Katastrophen, wie die von Fukushima und Tschernobyl, haben schon vor Jahren und Jahrzehnten den informatorischen Nutzwert der Fernerkundung deutlich gemacht. Als es am 26. April 1986 in der Ukraine zur bis dahin schwersten Havarie in der Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie kam, wurden von offizieller Seite wichtige Informationen zurückgehalten. Erst vier Tage später wurde ein Foto vorgelegt, das kräftig retuschiert war.

Doch die Anrainerstaaten und die USA konnten dadurch nicht getäuscht werden. Seit dem 29. April lagen, via FE, visuelle Übersichten über das tatsächliche Schadensbild vor. Aus Datenmaterialien eines US-Militärsatelliten und des kommerziellen Satelliten Landsat ließen sich der noch nach Tagen nicht gelöschte Brand (rot-gelber Fleck ), die aus dem Farbspektrum resultierende Temperatur des Kühlwassers und die nach Südwesten treibende gewaltige Gefahrstoffwolke identifizieren. Ähnlich desinformierend war die anfängliche Informationspolitik beim GAU von Fukushima.

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FE ermöglicht die Bewertung von global oder regional wirksamen Ereignissen in einem möglichst frühen Stadium. Ein weiterer unschätzbaren Vorteil ist, dass im Gegensatz zu herkömmlichen terrestrischen (erdgebundenen) Analyseverfahren mit unumgänglicher Probenentnahme vor Ort und akuten Kontaminierungsgefahr für die Einsatzkräfte, die FE-Methodik auch in temporär oder generell unzugänglichen Gebieten eingesetzt werden kann. Beispielsweise in hermetisch abgeschotteten Sperrgebieten (wie das im stark erweiterten Umkreis von Tschernobyl und Fukushima der Fall war), in Krisengebieten oder in extrem lebensfeindlichen Umgebungen.

Zuverlässiges Instrument

Passive Fernerkundungssysteme vermögen auch Erscheinungsformen des elektromagnetischen Spektrums darzustellen, die sich der Wahrnehmungsfähigkeit des Auges und überhaupt der menschlichen Sensorik entziehen. Dazu zählen unter anderem Ultraviolett- (UV-), Infrarot- (IR)- und Thermal- (Thermal-IR) Spektralbereiche sowie Röntgen-, Radio- und Mikrowellen. Aktive Systeme senden selbst elektromagnetische (Radar-) Strahlen aus, aus deren Reflexionsverhalten exakte Ableitungen möglich werden. Die Radartechnologie hat den Vorteil, dass sie unter allen Lagebedingungen funktioniert. Weder dichte Bewölkung oder extreme Wetterbedingungen noch Dunkelheit oder Rauch- und Aschewolken können ihre Messfunktionalität beeinträchtigen

Ein konkretes Anwendungsbeispiel ist die Identifikation und Bewertung von Gefahrstoffwolken aus sicheren Entfernungen. Nach der Entwicklung des Hyperspektralsensors Hygas (abbildendes Fernerkundungsystem) können chemische, biologische, radiologische, nukleare und explosive Substanzen, auch CBRNE-Gefahrstoffe genannt, aus großer Ferne detektiert und zwecks Ortung visualisiert werden. Die Einsatzoptionen erstrecken sich von der Überwachung von Flughäfen, Bahnhöfen, sicherheitsrelevanten Liegenschaften und Gebäuden sowie Großveranstaltungen bis hin zu Vor-Ort-Analysen bei Bränden, terroristischen Anschlägen, Chemieunfällen oder Naturkatastrophen (Beispiele: Aschewolke des isländischen Vulkans Eyjafjallajökul, Erdbeben in Haiti, Tsunami). Die Detektion ist so genau, dass sie sogar die Ethanolwolken abbildet, die sich – aus der konzertierten „Alkoholfahne“ tausender Fans gespeist - regelmäßig über großen Sportveranstaltungsstätten zu bilden pflegen.

Längst haben fernerkundliche Anwendungen Eingang in die Unternehmenswelt gefunden. Ohne FE wären Rohstoffprospektion und Lagerstättengeologie quasi auf einem Auge blind. Zur Überwachung von Hochspannungsleitungen oder Planung von Bahntrassen und Straßen wird flugzeuggetragenes Laserscanning eingesetzt, wie Johann Sehner, Diplom-Geograf und Produktionsleiter der IABG Geodaten Factory, gegenüber W&S erläutert. Auch die Mobilfunkanbieter nutzen nach seinen Worten fernerkundlich gewonnene Geodaten wie Landnutzungsdaten und dreidimensionale Stadtmodelle für die Funknetzplanung. Luft- und Satellitenbilder dienen dabei der Erfassung und Aktualisierung räumlicher Daten. Im Vergleich zu terrestrischen Verfahren lassen sich die Kosten mit fotogrammetrischen Methoden erheblich senken.

FE für die Industrie

Fernerkundung leistet aber auch beim immer deutlicher aufkommenden Geomarketing einen wesentlichen Beitrag zur Erfassung der räumlichen Daten, wie Johann Sehner weiter erläutert. Bei dieser Teildisziplin des Marketings werden soziodemografische Daten mit digitalen Karten verknüpft, um beispielsweise Filialstandorte und Vertriebsgebiete zu planen oder die Tourenplanung für Außendienstmitarbeiter zu optimieren.

In der Landwirtschaft gibt es gleichfalls zahlreiche Einsatzfelder, macht Prof. Traub deutlich. So ermöglicht es die Fernerkundung, Schwachstellen der Vegetation zu identifizieren und zum Ausgleich punktuell Düngemittel einzubringen - Stichwort „Precision Farming“. Das ist gerade in den neuen Bundesländern von Relevanz, da die dortigen zusammenhängenden Anbauflächen zum Teil größer sind als die in den USA.

Unverzichtbar ist, so der Hochschullehrer, die Fernerkundung bei der Standortwahl von Unternehmen. Potenzielle Gefahrenzonen können so zuverlässiger erkannt werden, ebenso potenziell negative metereologische Phänomene wie Windlasten oder aber Kalt- und Heißzonen, die sich nicht adäquat erwärmen oder abkühlen. Auch problematische tektonische Erscheinungen, wie Bodensenkungen und –hebungen, können im Vorfeld erkannt werden. Gerade Rückversicherungenen partizipierten ebenfalls vom Blick aus der Ferne. FE wird eingesetzt, um Risiken einzuschätzen und einen schnellen Überblick über Schadensbilder zu erhalten, so der Hochschullehrer.

Dennoch ist die Methodik der Fernerkundung für viele Unternehmen immer noch eine unbekannte Welt. Dr. Jörg Reichling, Leiter der Geschäftsstelle der Kommission für Geoinformationswirtschaft (GIW), einer Schaltstelle zwischen Wirtschaft und Verwaltung, der die wichtigsten deutschen Wirtschaftsverbände angehören, berichtet gegenüber W&S von einer Umfrage unter den Mitgliedsorganisationen. Zentrale Fragestellung war, welche Datencluster die jeweiligen Branchen für ihre Geschäftsmodelle benötigen. Fernerkundung wurde in den Antworten nicht genannt. FE - ein Potenzial, das erst allmählich erkannt wird.

Klaus Henning Glitza

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