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Die Quadratur des Kraiss 4. Dezember 2012

HD-Spagat

Ein Spagat (vom italienischen spaccata „Grätsche“ beziehungsweise spaccare „spalten“) ist eine Akrobatik-Übung, bei der jemand die Beine so weit spreizt, dass sie eine gerade Linie bilden. Der Spagat kommt beim Ballett, im Fitness- und Tanzsport, im Turnen und in diversen Kampfsportarten vor.

Im Deutschen wird der Begriff häufig als Metapher benutzt, um auszudrücken, dass jemand zwei (meist argumentativ, aber auch räumlich) gegensätzliche Positionen zu überbrücken versucht. In der Videotechnik, und besonders beim Einsatz von Megapixelkameras, scheint die Kunst des Spagats unumgänglich zu sein. Es geht um den Spagat zwischen der Detailgenauigkeit eines sich bewegenden Objektes und der erforderlichen Beleuchtung. Sie ahnen bereits, worum es geht: Genau, es geht um den Wischeffekt, der typischerweise bei Megapixelkameras in Low-Light-Szenarien auftritt.

Der Teufel steckt im Detail

Damit wir uns richtig verstehen, es geht nicht um den Einsatz von HD-Kameras an Tankstellen, wo relativ statische Situationen aufgenommen werden, es geht um den Einsatz von HD-Kameras in Verbindung mit sich bewegenden Objekten und Personen. Betrachten wir uns also nachfolgendes Szenario: Es handelt sich um eine Freigeländeüberwachung und es sollen Megapixelkameras eingesetzt werden. Die Überwachungsreichweite liegt zwischen zehn und 50 Metern. Die Bewegungsrichtung erfolgt mit 70 bis 90 Grad zur Bildachse. Eine Person bewegt sich in der Regel mit einer Geschwindigkeit von rund einem Meter pro Sekunde. Die Strecke, die eine Person innerhalb einer Belichtungszeit von 1/50 Sekunde zurücklegt, beträgt also etwa zwei Zentimeter. Bei einer Belichtungszeit von 1/6 Sekunde sind es sogar 16 Zentimeter.

Nun wissen wir, dass bei herkömmlichen Videokameras die 50 Halbbilder pro Sekunde mit einer entsprechend kurzen Belichtungszeit von rund 1/50 Sekunde erzeugt werden. Da aber bei HD-Kameras in Low-Light-Szenarien gerne die Belichtungszeit auf zum Beispiel 1/6 Sekunde und mehr verlängert wird, um ein Bild mit ausreichendem Kontrast zu erzeugen, steigt mit der längeren Belichtungszeit auch der zurückgelegte Weg eines sich bewegenden Objektes. Der Wischeffekt wirkt sich entsprechend dramatisch aus. Bei einer Belichtungszeit von 1/6 Sekunde liegt die Breite des Wischeffekts bei sechs Zentimetern. Um diesen Effekt zu verhindern, muss - in Abhängigkeit zur Bewegungsgeschwindigkeit - die Belichtungszeit reduziert werden und das bedeutet: Man benötigt die dafür notwendige Beleuchtung. Da haben wir den Spagat - oder sollte ich sagen, den Salat.

Aufklärung tut not

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In den Datenblättern der Hersteller wird stets mit minimaler Beleuchtungsstärke geworben. Dabei sind Angaben von zum Beispiel drei Lux und niedriger durchaus üblich. Allerdings fehlt die Angabe, für welche Belichtungszeit diese minimale Beleuchtungsstärke gilt. Um die erforderliche Planungssicherheit bei unserer Beratungs- und Planungstätigkeit zu erlangen, haben wir intensiv nach Angaben zur Belichtungszeit recherchiert, doch unser Bemühen war ergebnislos, ja hoffnungslos. Auch unsere Fragen an namhafte Hersteller blieben ergebnislos. In einigen Fällen hatten wir sogar den Eindruck, dass unsere Recherche höchst unwillkommen war. Inoffiziell wurde von einem Unternehmensvertreter bei einer Abendveranstaltung und nach dem dritten Bier mal eine dreistellige Luxzahl genannt.

Auch die im PROTECTOR veröffentlichten Tests zu den Leistungsmerkmalen der aktuellen HD-Kameras hatten für diese Problemstellung keine Antwort parat. Der Testaufbau berücksichtigte zwar Low-Light- und Gegenlicht-Szenarien, wendet für den Test aber einen statischen Aufbau an, der bei den klassischen Videoüberwachungsszenarien in der Regel nicht anzutreffen ist. Leider wird unsere Frage zur Belichtungszeit in Verbindung mit der Beleuchtungsstärke an dieser Stelle auch wieder nicht beantwortet. Will man also diesen Spagat umgehen? Will man die erforderliche „Beleuchtungsstärke“ mit dem zugehörigen Parameter „Belichtungszeit“ bewusst nicht bekanntgeben? Soll den Planern und Anwendern bewusst verschwiegen werden, wie viel Licht bei dem vorstehend beschriebenen Szenario erforderlich ist und welche Auswirkungen damit verbunden sind?

Ein schönes Weihnachtsgeschenk

Es wäre ein schönes Weihnachtsgeschenk für so manchen Planer und Anwender, wenn etwas Licht in das Dunkel der technischer Leistungsmerkmale von HD-Kameras käme. Ohne Weihnachtsgeschenk ist nur anzuraten, die Eignung von HD-Kameras in einer Präqualifikationsphase und mittels realistischer Testumgebungen zu ermitteln. Also liebe Hersteller, nehmen Sie ein Stück Papier, schreiben Sie die wirklich wichtigen Angaben drauf und schicken Sie es uns. Sie müssen es nicht mal schön verpacken, der Inhalt macht es.

Volker Kraiss, Senior Security Consultant bei Kraiss & Wilke

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