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Unternehmen 18. Juni 2020

Lagebild zu Clankriminalität 2019 in Niedersachsen

Vor Kurzem wurde das erste öffentliche Lagebild zu Clankriminalität 2019 in Niedersachsen veröffentlicht.

Der Niedersächsische Minister für Inneres und Sport, Boris Pistorius, hat am 12. Juni 2020 das erste öffentliche Lagebild zur Clankriminalität in Niedersachsen vorgestellt. Laut Pistorius ist Clankriminalität in allen ihren Ausprägungen in Niedersachsen ein ernstzunehmendes Problem. Auch wenn die Anzahl der Straftaten selbst im Promillebereich im Verhältnis zur Gesamtkriminalität stehe: Kriminelle Clanmitglieder seien gewalttätig, sie bedrohten ihre Konkurrenz genauso wie Angehörige der Polizei. Mitglieder aller kriminellen Clans in Niedersachsen würden mit überhöhtem Ehrgefühl und großer Respektlosigkeit auftreten, sie beachteten geltende Regeln und Gesetze nicht. Sie bedrohten damit den Rechtsstaat und unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft. Sie akzeptierten unsere Rechtsordnung genau so wenig wie Vertreter des Rechtsstaats, die kommunal geltenden Regelungen und die Ordnungsbehörden. Darauf reagiere man repressiv und unmittelbar mit allem, was insbesondere im polizeilichen Repertoire zur Verfügung stehe, so Pistorius.

Wesentliche Zahlen, Daten und Fakten des Lagebildes 2019

2019 wurden in Niedersachsen insgesamt 2.630 „Ereignisse im Zusammenhang mit Clankriminalität“ registriert, davon handelte es sich in 1.585 polizeilichen Vorgängen um Straftaten. Im Wesentlichen waren hier Körperverletzungs-, Bedrohungs- und Beleidigungsdelikte zu verzeichnen.

1.646 Personen wurden als Tatverdächtige oder Beschuldigte erfasst. Davon waren 87 % männlich und mehr als 50 % in einem Alter von unter 30 Jahren. Die Beschuldigten oder Tatverdächtigen kommen ursprünglich aus 49 verschiedenen Staaten. In Bezug auf die Herkunft dominiert allerdings die Bundesrepublik Deutschland mit 890 Personen, gefolgt vom Libanon (167), der Türkei (162), Syrien (83) und Rumänien (53).

Insgesamt wurden Vermögenswerte in Höhe von knapp 5,7 Mio. Euro vorläufig gesichert. 355 Personen (21,6 %) traten 2019 mehrfach als Täter in Erscheinung.

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Die Tatorte verteilen sich - in unterschiedlicher Ausprägung - nahezu über das gesamte Flächenland Niedersachsen und zwar sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten. Urbane „Hotspots", wie sie aus anderen Ländern bekannt und in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt sind, sind in Niedersachsen in der Intensität aber nicht erkennbar.

Hohes Dunkelfeld bei Clankriminalität

Zur Einschätzung des Dunkelfeldes der Clankriminalität sagt der Präsident des Landeskriminalamtes Niedersachsen, Friedo de Vries, dass man davon ausgehe, dass man im Dunkelfeld noch etwas mehr Straftaten clankriminellen Personen und Gruppierungen zuschreiben müsste. Es liege aber gerade in der Eigenart der Clankriminalität, dass die Polizei aufgrund der familiären Abschottung und durch Einschüchterungshandlungen von einem gewissen Teil der Straftaten erst gar nicht erfahre.

Entwicklung des Lagebildes seit 2013 bis heute

Das jetzt vorgelegte Lagebild zur Clankriminalität für das Jahr 2019 gewährt erstmals öffentlich einen umfangreichen Einblick in die verschiedenen Ausprägungen der Clankriminalität, Details behördlicher Bewertungen und Maßnahmen. Niedersachsen hatte - als eines der ersten Bundesländer - einen Schwerpunkt in der Bekämpfung der Clankriminalität gesetzt und bereits seit 2013 interne Lagebilder erstellen lassen, die aber bisher lediglich für dienstliche Zwecke Verwendung fanden, insbesondere um Einsatz- und Ermittlungsmaßnahmen zu unterstützen. Man habe schon sehr früh auch mit einem Lagebild den Fokus auf kriminelle Clanmitglieder gelegt, das seien insbesondere kriminelle Personen türkisch-arabischer Abstammung gewesen, so Pistorius. Sie seien seit Jahren durch Gewalttätigkeiten, Aggressivität und auch Widerstandshandlungen gegen Polizeikräfte aus teils nichtigem Anlass in Erscheinung getreten. Diese Entwicklung habe dazu geführt, die vorhandenen Daten und Erfahrungen erstmals vor sieben Jahren auch in ein landesweites Lagebild zu überführen.

Die wesentlichen Kriterien zur Erstellung der Lagebilder wurden von 2013 bis zu dem jetzt vorgelegten Lagebild immer deutlicher definiert. So wurden Straftaten zunächst vor allem durch eindeutig zuzuordnende Nachnamen von bekannten Gefahrenverursachern und Straftätern der Clankriminalität retrograd zugeordnet, also in der Regel erst lange, nachdem sich die Straftat ereignet hatte.

Bundesweit einzigartige Methodik

Diese Vorgehensweise hat sich mit dem Jahr 2019 - also mit dem nun vorgelegten Lagebild - entscheidend verändert. Dieses neuartige Lagebild generiert sich insbesondere daraus, dass die Polizei in jahrelanger fachlicher Annäherung einen ausgereiften Merker für Straftaten mit Bezug zur Clankriminalität entwickelt hat. Diese bundesweit so einzigartige Methodik setzt im Gegensatz zum bisherigen retrograden Vorgehen bereits in der Erfassung der Daten in „Nivadis“, dem polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystem, an. Man befinde sich auch noch in der Einführungs- oder, wenn man so will, Lernphase, betont Innenminister Pistorius. Die Einführung entsprechender Merker in die Praxis dauere mit Blick auf das Nutzungsverhalten meist eine gewisse Zeit. Das kenne man aus anderen Phänomenbereichen. Man könne mit diesem neuen Ansatz Sachverhalte schneller der Clankriminalität zuordnen, was gerade im dynamischen Feld dieser Kriminalitätsform enorm wichtig für die Arbeit der Polizei sei. Das Ziel sei es, immer vor der Lage zu sein. Diese neue Systematik der Erfassung und Zuordnung gehe deutlich über hauptsächlich ethnische Kriterien - wie bis zum Lagebild 2018 - hinaus. Namen, Herkunftsländer und Nationalitäten seien keine allein bestimmenden Kriterien mehr. Es gehe um typisch clankriminelles Verhalten, so Pistorius.

Zur aktuellen Situation in Peine

Auch vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Peine stelle man fest, dass offenbar kriminellen Clans zugehörige Personen oder Gruppen die offene Konfrontation mit dem Rechtsstaat geradezu suchten, so der Innenminister weiter.

In Peine hatten in den vergangenen Wochen mutmaßliche Clanmitglieder eine im Innenstadtbereich wohnende Polizeibeamtin bedroht, zuvor war ihr Auto mehrfach beschädigt worden. Einen weiteren Beamten, der in dieser Sache ermittelt, hatten Clanmitglieder bis zu seinem privaten Wohnsitz verfolgt. Am Anfang dieser Woche hat sich Innenminister Pistorius selbst ein Bild von der Situation in Peine gemacht und sprach dabei auch mit der Beamtin und dem Beamten.

Diese Form der Bedrohung mache den Betroffenen Angst. Genau darum gehe es den Clans dabei. Einzuschüchtern, Angst zu machen und zu verunsichern. Die Polizei treffe alle notwendigen Maßnahmen gegen Straftäter und Gefährder, betont Pistorius. Man lasse nicht zu, dass diejenigen Frauen und Männer, die jeden Tag unseren Rechtsstaat verteidigten, von Straftätern drangsaliert oder bedroht würden - noch dazu in ihrem Privatleben. In Peine sei eine Situation eingetreten, die es offensichtlich notwendig mache, nochmal einen Gang höher zu schalten. Das werde man tun.

Vernetzung der Behörden wird ausgebaut

Landespolizeipräsident Axel Brockmann ordnet das Phänomen Clankriminalität in Niedersachsen weiter ein: Man werde sich der Clankriminalität weiter intensiv widmen und die Vernetzung mit den kommunalen Behörden und Institutionen weiter ausbauen. Überall da, wo Kriminelle meinten, die Straße gehöre ihnen, sie stünden über dem Recht, würden man ihnen erforderlichenfalls noch intensiver mit Präsenzkräften auf den Füßen stehen. Dazu setze man punktuell auch die Bereitschaftspolizei ein. Das Agieren krimineller Clans sei von einem hohen Abschottungsgrad, einem hohen Mobilisierungspotenzial innerhalb der vorhandenen Familienstrukturen sowie einer Ablehnung deutscher Gesetze und Normen geprägt.

Da sich Polizei und auch Justiz fortlaufend vor Herausforderungen gestellt sehen, ist die Bekämpfung krimineller Clanstrukturen seit mehreren Jahren Schwerpunkt sicherheitsstrategischer Befassungen in Niedersachsen und führt zu der Fortentwicklung von diversen Maßnahmen und Konzepten. Am 1. März 2018 wurde die „Landesrahmenkonzeption zur Bekämpfung krimineller Clanstrukturen" in Kraft gesetzt. Sie dient der Gewährleistung landesweit einheitlicher Standards und verfolgt einen ganzheitlichen und niedrigschwelligen Bekämpfungsansatz. Durch eine intensive Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei sollen kriminelle Clanstrukturen auch schon weit unterhalb der Grenze zu schwerer oder Organisierter Kriminalität bekämpft werden.

Ein sehr niedrigschwelliges Einschreiten auf der Straße sei eine wesentliche strategische Leitlinie für alle Polizeibeamten bei dem Umgang mit Mitgliedern krimineller Clans. Diesen Personen begegnete man zudem angepasst mit entsprechenden Ermittlungseinheiten und spezialisierten Ermittlungskräften, so Brockmann weiter.

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