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Öffentliche Sicherheit 26. April 2021

Menschliches Verhalten in Gefahrensituationen

Seien es Naturkatastrophen oder terroristische Anschläge: Sicherheitskräfte müssen das menschliche Verhalten in Gefahrensituationen kennen und miteinbeziehen.

Die Idylle auf einem Weihnachtsmarkt kann trügerisch sein. Seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt sind die Gefahren, die mit dem Besuch von öffentlichen Orten verbunden sind, stärker im Bewusstsein präsent.
Die Idylle auf einem Weihnachtsmarkt kann trügerisch sein. Seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt sind die Gefahren, die mit dem Besuch von öffentlichen Orten verbunden sind, stärker im Bewusstsein präsent.

Wie verhalten sich Menschen, wenn sie unerwartet in Gefahrensituationen zum Beispiel durch einen terroristischen Anschlag geraten? Welche Hilfestellung psychologische Erkenntnisse für Sicherheitskräfte bieten können, erläutert Prof. Dr. Birgitta Sticher, Professorin für Psychologie und Führungslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR) dem PROTECTOR.

Sei es auf einem Weihnachtsmarkt oder einem Straßenfest: Wie reagieren Menschen, wenn ihr Leben plötzlich bedroht wird? Fliehen, Verstecken oder Verteidigen? Welcher Reflex ist am stärksten?

Prof. Dr. Birgitta Sticher: Wenn Menschen eine Bedrohung für sich und für andere Menschen wahrnehmen, mit denen sie emotional verbunden sind, dann entsteht Angst. Diese Angst führt zu einer schnellen Mobilisierung aller notwendigen Kräfte, die das Überleben sichern können: Das kann schnelles Wegrennen sein oder der Einsatz von körperlichen Kräften, um Hindernisse zu überwinden. Was genau geschieht, hängt von der konkreten Situation ab und wie diese sich aus der Perspektive der beteiligten Personen darstellt.

Menschliches Verhalten unter Stress

Eine solche Ausnahmesituation bedeutet für den Menschen ja Stress. Kann man da voraussetzen, dass er „richtig“, das heißt rational reagiert und zum Beispiel den Anordnungen des Sicherheitspersonals folgt?

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Wenn die Person starke Angst erlebt beziehungsweise unter hohem Stress steht, ist das Denken eingeschränkt, aber dennoch möglich und richtet sich auf die Beantwortung der zentralen Fragen: Wie gefährlich ist die Situation? Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen, um in Sicherheit zu kommen? Gerade weil Information so dringend benötigt wird, hat das Sicherheitspersonal eine große Chance, konkrete Anordnungen zu geben. Auch ist davon auszugehen, dass diesen Anordnungen Folge geleistet wird, wenn die Informationen in der noch näher zu erläuternden Art und Weise vermittelt werden. Selbst Personen, die sonst kritisch dem Sicherheitspersonal gegenüber eingestellt sind, haben eine erhöhte Bereitschaft, den Anweisungen Folge zu leisten. Es öffnet sich in dieser Situation ein „window of opportunities“ – ein Fenster der Möglichkeiten, das genutzt werden kann.

Versuchen Menschen denn, sich alleine aus der Gefahrensituation zu retten oder suchen sie eher die Gruppe?

In einer akuten Gefahrensituation, die eine Person unerwartet trifft, werden die anderen Menschen in der Regel stärker als in normalen Alltagssituationen als eine wichtige Unterstützung wahrgenommen. Menschen definieren sich dann eher als Teil dieser Gruppe, da diese den gleichen Bedingungen ohne ihr Zutun ausgesetzt ist. In einer solchen Situation steigt das Vertrauen in andere, man erwartet größere Unterstützung von diesen und ist auch bereit, selber andere zu unterstützen. Dadurch entsteht ein Gefühl von Sicherheit, das auch koordiniertes Verhalten in der Gruppe ermöglicht.

Reagieren Menschen in einer solchen Situation eher egoistisch, das heißt dass sie nur sich selbst retten wollen, oder helfen sie auch anderen?

Anders als oft vermutet, zeigt die Analyse des menschlichen Verhaltens in extremen Bedrohungssituationen, dass die Bereitschaft zu helfen auch bei Personen auftritt, die sich im Alltag sonst wenig um andere kümmern. Diese Hilfsbereitschaft gilt zu allererst den mir nahestehenden Personen, bezieht sich aber auch auf Unbekannte. Durch das extreme Ereignis entsteht eine Gemeinschaft der Leidenden und damit verbunden eine erhöhte Hilfsbereitschaft. Offenbar wird die in uns tief verankerte Norm lebendig, die besagt: „Den hilflosen Menschen muss geholfen werden“.

Helfer einbinden

Wie können die Sicherheitskräfte diese „Helfer“ einbinden?

Wenn Sicherheitskräfte davon ausgehen, dass eine solche Hilfsbereitschaft eine wahrscheinliche Reaktion der Menschen ist, dann folgt daraus die Vorgehensweise, diese gezielt zu konkreten helfenden Verhaltensweisen aufrufen. Besonders wichtig ist, dass sie klare Instruktionen geben: „Bitte tun Sie ....“-

Wann entsteht dann überhaupt eine Massenpanik?

Eine Massenpanik geht mit dem Verlust der Selbstkontrolle einher. Weitere häufige Verhaltensweisen, die bei einer Massenpanik auftreten, sind lautes Schreien und nicht rationales Fliehen oder Erstarren. Eine derartige gleichzeitige Reaktion von einer großen Anzahl von Menschen ist äußerst selten. Sie entsteht dann, wenn die Personen zu der Einschätzung kommen, dass sie keine oder nur eine sehr begrenzte Chance haben, auf die lebensbedrohliche Situation positiv Einfluss zu nehmen.

Wie können Sicherheitskräfte jetzt diese psychologischen Erkenntnisse nutzen?

Die wichtigste Erkenntnis ist, dass so frühzeitig wie möglich die notwendigen Informationen gegeben werden müssen, die einen Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Situation aufzeigen. Dann kommt es erst gar nicht zur Massenpanik.

Aus der Beschäftigung mit den Verhaltensweisen von Menschen in lebensbedrohlichen Situationen leitet sich für Sicherheitskräfte aber vor allem ab, bereits im Vorfeld eines Ereignisses tätig zu werden: Wenn möglich sollten bezogen auf konkrete Räumlichkeiten und Örtlichkeiten Bedrohungsszenarien durchdacht und Lösungsmöglichkeiten geschaffen werden: Sind hinreichend viele Fluchtmöglichkeiten bei Massenveranstaltungen vorhanden und gut sichtbar gekennzeichnet? Gibt es die technischen Voraussetzungen, um mit einer großen Anzahl von Menschen zu kommunizieren? Sind die Absprachen zwischen den Sicherheitskräften klar, um ein koordiniertes Handeln in Bedrohungssituationen zu gewährleisten? Dies sind nur einige der wichtigen Fragen, die vor Massenereignissen beantwortet werden müssen. Es gehört heute zu den Anforderungen an das Veranstaltungsmanagement, auf diese Fragen Antworten zu geben und entsprechende Vorkehrungen zu treffen.

Wenn wirklich Massenpanik ausgebrochen ist, kann nur massives Eingreifen helfen. Eine kommunikative Beeinflussung ist dann (fast) nicht mehr möglich.

Kommunikation in einer Gefahrensituation

Welche Rolle spielt die von Ihnen bereits mehrfach erwähnte Kommunikation in einer Krisensituation?

Aus all dem bisher Gesagten wird deutlich: Kommunikation in einer Krise ist von fundamentaler Bedeutung für deren Bewältigung! Eine Kommunikation gelingt, wenn Folgendes beachtet wird: 

Zunächst muss durch ein optisches und/oder akustisches Signal die Aufmerksamkeit der Menschen geschaffen werden, damit die Kommunikation von diesen überhaupt aufgenommen werden kann.

Ist die Aufmerksamkeit hergestellt, müssen in einfacher Sprache langsam und deutlich die wichtigsten Fragen der Menschen beantwortet werden. In der Regel wollen die Menschen wissen: Welche Bedrohung besteht für mich und die mir wichtigen Personen? Welche Konsequenzen sind zu erwarten? Was kann ich konkret tun, damit der Schaden für mich, die mir wichtigen Personen und andere Anwesende so gering wie möglich ist? Was wird für mich / für uns von wem wann und warum getan beziehungsweise warum wird etwas nicht getan?

Sollten dabei viele Informationen gegeben oder eher zurückgehalten werden?

Es sollen alle notwendigen Informationen gegeben werden, um den Menschen Orientierung und Hilfe zu vermitteln. Dazu zählt auch zu sagen, was man aktuell nicht beziehungsweise noch nicht weiß.

Informationen dürfen nur dann zurückgehalten werden, wenn diese für die Betroffenen keine Bedeutung haben. Letztendlich ist es aber immer eine Entscheidung, die in der konkreten Situation getroffen werden muss. Die kommunizierende Person sollte sich fragen: Was wäre mir wichtig, wenn ich betroffen bin? Die Kommunikation muss Vertrauen schaffen – nur so kann die stressauslösende Situation bestmöglich bewältigt werden.

Kommen wir noch zu einem eher „technischen“ Aspekt: Wenn die Räumung eines Areals geübt wird, wird dazu häufig eine Simulationssoftware genutzt. Wie kann das menschliche Verhalten hier miteinbezogen werden?

Die Simulation sollte die Verschiedenheit der Menschen einbeziehen: Es wird allzu oft von der „Normalperson“ ausgegangen, die allein ist, gesund ist und die deutsche Sprache gut versteht. Aber vielleicht ist die Person in Begleitung von kleinen Kindern oder von emotional für sie bedeutsamen Personen und Tieren. Vielleicht ist sie seh-, hör- und gehbehindert oder in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Und vielleicht versteht die Person die deutsche Sprache nicht oder nur unzureichend. All dies beeinflusst das Verhalten von Menschen und muss mit bedacht werden.

Die Simulation sollte davon ausgehen, dass Menschen sich auch in bedrohlichen Situationen rational verhalten. Das heißt, sie versuchen mit den ihnen verfügbaren Möglichkeiten die für sie sinnvollen Ziele zu erreichen. Das kann von außen betrachtet irrational erscheinen, ist es aber nicht. Ein Beispiel macht das deutlich: Wenn eine plötzliche Gefahr auftritt und die Person deshalb ein Gebäude schnell verlassen will, dann tut sie das normalerweise über den Weg, den sie beim Eintritt gewählt hat. Sie tut dies auch dann, wenn ein Notausgang schneller erreichbar wäre. Sie wählt aber lieber den ihr bekannten und vertrauten Weg, um in Sicherheit zu kommen.

Prof. Dr. Birgitta Sticher, Professorin für Psychologie und Führungslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR)
Prof. Dr. Birgitta Sticher, Professorin für Psychologie und Führungslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR)

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