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Konfliktforschung 1. Juni 2016

Zahl der Konflikte steigt weltweit

Die Bedeutung internationaler politischer Konflikte für die global vernetzte Wirtschaft hat in den letzten Jahren rasant zugenommen. Problematisch sind für Unternehmen nicht nur unzureichende Informationen über Konflikte, sondern auch die fehlende Analyse.

Gefährdung der Transportwege innerhalb der Türkei.
Gefährdung der Transportwege innerhalb der Türkei.

Die Auswertung der umfassenden Konfliktdatenbank (s. Kasten S. 73) zeigt eine drastische Zunahme der gewaltsamen politischen Konflikte in den letzten 25 Jahren. Auffällig ist zunächst, dass die innerstaatlichen Konflikte in ihrer Anzahl und Häufigkeit die zwischenstaatlichen gewaltsamen Konflikte deutlich übersteigen – die Gefahr politischer Gewalt entwickelt sich der Regel aus innerstaatlichen Gewaltkonstellationen.

Derzeit wird in über 300 der insgesamt laufenden 400 Konflikte bereits Gewalt angewandt oder mit Gewalt gedroht. 2015 zählte das mit Conias eng verbundene Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung 409 Konflikte, von denen 43 aufgrund des massiven Einsatzes organisierter Gewalt und ihrer gravierenden Folgen als „hochgewaltsam“ eingestuft wurden. 21 dieser hochgewaltsamen Konflikte erreichten die höchste Intensitätsstufe eines Krieges.

Die internationale Sicherheitsarchitektur, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingerichtet wurde, scheint somit zu funktionieren. Auch zwischenstaatliche Kriege, wie Sudan vs. Südsudan (2012) oder Georgien vs. Russland (2008), waren keine Krisen des internationalen Systems, sondern entstanden aus gescheiterten bzw. problembehaftete Sezessionen aus bestehenden Staaten heraus.

Die wiederkehrenden zwischenstaatlichen gewaltsamen Konflikte, die unterhalb der Kriegsschwelle ausgetragen werden, entsprechen ebenfalls diesem Muster: Zusammenstöße zwischen indischen und pakistanischen oder zwischen nord- und südkoreanischen Streitkräften werden meist aus nichtigen Anlass um Grenzverläufe geführt, deren tatsächlicher Hintergrund in ihrer gemeinsamen Geschichte zu finden ist.

Dennoch sollen die niedrigen Häufigkeiten nicht darüber hinwegtäuschen, dass in weiten Teilen der Welt eine ergänzende regionale Sicherheitsstruktur, wie sie Europa mit der NATO und der Europäischen Union hat, fehlt oder wesentlich geringer ausgeprägt ist.

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Gerade für Asien, das in den letzten Jahren einen offen ausgetragen Rüstungswettlauf zwischen den Regionalmächten erlebt, die neben dem Konflikt um die Spratly-Inseln noch einige andere ungeklärte Konflikte austragen, ist erhöhte Aufmerksam geboten.

Größtes Risikopotential

Wesentlich dramatischer ist die Entwicklung bei den innerstaatlichen gewaltsamen Konflikten zu sehen. Besorgniserregend ist insbesondere die Häufigkeit der gewaltsamen innerstaatlichen Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle: Deren Anzahl hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges mehr als vervierfacht. Ein zentraler Grund liegt im Wegfall der militärischen und finanziellen Unterstützung, die die beiden damaligen Supermächte USA und Sowjetunion ihren verbündeten Regimen oder Rebellengruppierungen bis zum Anfang der 1990er Jahre zukommen ließen.

Eine der Folgen war das Aufkommen von schwacher Staatlichkeit, das heißt die Staaten verloren danach immer mehr die Fähigkeit, ihre zentralen Aufgaben – darunter die Gewährleistung von Sicherheit und Durchsetzen von Recht und Ordnung – zu erfüllen. Die beiden dramatischsten Folgen waren in den 1990er Jahren der Völkermord in Ruanda und der Bürgerkrieg in Somalia.

Conias (Conflict Information and Analysis System) ist ein über mehrere Jahrzehnte an der Universität Heidelberg in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union fortentwickelter Forschungsansatz zur Analyse von Konfliktdynamiken inklusive umfassender Datenbank zur Risikoeinschätzung politischer Konflikte.

Anders als in anderen bekannten Konfliktdatenbanken wurden und werden hier vollständige Verlaufsdaten auch über nicht- bzw. noch nicht gewaltsame politische zwischen-, inner- oder transnationaler Konflikte gesammelt. Die Datenbasis reicht zurück bis 1945 und wird fortlaufend aktualisiert.

Grundlegende Idee des Ansatzes ist es, durch den Vergleich der Verlaufsmuster möglichst vieler politischer Konflikte bereits in Frühphasen, also vor dem Ausbruch von Gewalt, das Eskalationspotential aktueller politischer Konflikte zu erkennen. So weisen 100% aller in Conias erfassten Kriege seit 1945 eine Eskalationsdynamik auf. Die Analyse dieses Prozesses und der Vergleich mit ähnlich strukturierten Konflikten helfen zu erkennen, welche Faktoren über die kriegerische Eskalation entscheiden.

Dazu werden unter Verwendung einer eigens entwickelten Software in Zusammenarbeit mit Informationsdienstleistern kontinuierlich Zeitungen, Onlinezeitschriften, Blogs und soziale Netzwerke auf relevante Informationen überprüft und - sofern als zuverlässig eingeschätzt - für die Konflikterfassung genutzt. Jährlich werden dazu rund 3 Mrd. Artikel aus 40.000 Quellen gesichtet. Als Konflikt werden Auseinandersetzungen gewertet, die entweder Einschränkungen der physischen Sicherheit zur Folge haben oder das Potenzial dazu haben.

Pro Jahr flossen zuletzt 250.000 Artikel in die Datenbank ein. Die Bestimmung des spezifischen Risikos erfolgt mittels klar konzipierter Indikatoren, die auf dem Handeln und Kommunizieren der jeweiligen Konfliktakteure basieren. Hierbei werden alle Handlungen und Kommunikationen, die ein Akteur in einem politischen Konflikt ausführt, einzeln anhand eines Maßnahmenkataloges erfasst, der über 200 Kategorien, unter anderem juristische, militärische und protestbezogene Handlungen, unterscheidet.

Erfasst werden daneben Datum, Dauer, Akteure, Adressaten – bei gewaltsamen Handlungen auch die Zahl der Todesopfer, des eingesetzten Personals, der Flüchtlinge, sowie das Ausmaß der Zerstörung und die Art der eingesetzten Waffen. Diese standardisierte Methodik und konstante Analyse ermöglicht präzise und verlässliche Auswertungen über Länder- und Zeitgrenzen hinweg, unabhängig von Expertenmeinungen, die je nach persönlichem Kontext unterschiedliche Schlüsse beinhalten.

Das 2014 als Ausgründung aus der Politikwissenschaft der Universität Heidelberg entstandene Startup Conias Risk Intelligence GmbH bietet auf dieser Basis mittlerweile eine ganze Reihe von Services und Lösungen für das Risikomanagement in der Wirtschaft, zum Beispiel bei Standortwahl, Investitionsentscheidungen, Risikobewertungen, Auftragsvergaben oder der Erschließung neuer Märkte. Die Bestimmung des aktuellen Risikos (Risk Level 0 - 5) in einer geographischen Einheit, das kann auch eine Stadt oder eine andere subnationale Einheit sein, ergibt sich durch die jeweiligen Intensitäten der in der Region ausgetragenen Konflikte. Interessierte Kunden haben dabei die Möglichkeit, Einblick in alle Codierungen und die entsprechenden Quellenangaben zu nehmen.

Prognosen berücksichtigen zudem die Eskalationsanfälligkeit eines Konfliktthemas, die bisher eingesetzten Maßnahmen sowie die Erfahrungen der Akteure und deren Partner mit unterschiedlichen Wegen der Konfliktlösungen. Wie bei einer Wettervorhersage werden hier somit aus Vergangenheitsdaten Vorhersagen – auch zeitliche – für die Weiterentwicklung des Konflikts entwickelt.

Eine Erfahrung ist, dass Konfliktformen, die eine große Zerstörungskraft aufweisen können, in der Regel rechtzeitig erkannt werden, denn auch die Akteure benötigen eine entsprechende Vorbereitungszeit. Vor Krieg oder kriegsähnlichen Konfliktformen bleibt Unternehmen in der Regel genügend Zeit, um ihre Prozesse neu zu organisieren oder Mitarbeiter rechtzeitig aus der Gefahrensituation zu bringen.

Die Qualität des Ansatzes zeigt sich daran, dass die Methodik jeden der knapp 300 Kriege seit 1945 bereits in einer frühen Konfliktphase erfasst. Je nach Konflikttyp konnte eine spätere kriegerische Eskalation in bis zu 90% der Fälle frühzeitig erkannt werden.

Auch die Terroranschläge vom 11.9.2001 sind ein wichtiger Erklärungsfaktor für die Zunahme innerstaatlicher Konflikte: Die Militärschläge der USA in Afghanistan und dem Irak destabilisierten die gesamte Region und führten zum Ausbruch vieler neuer Konflikte. Außerdem manifestierte sich mit der Al Quida eine neue Form eines nicht-staatlichen Akteurs: Als transnationale Organisation „exportierte“ sie Konfliktmuster in verschiedene Regionen der Welt.

Die Entwicklung seit 1990 lässt sich somit knapp zusammenfassen: Innerstaatliche gewaltsame Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle sind der dominierende politische Risikofaktor.

Die Schwäche vieler Transitionsstaaten ist eng verbunden mit der Ausbreitung der sogenannten „leichten Waffen“, also den einfach nachzubauenden Kalaschnikows oder Sprengstoffen, wie sie für Terroranschläge verwendet werden. Viele dieser Konflikte oszillieren dabei in ihrer Austragungsform, das heißt, sie werden mal stärker, mal weniger stark ausgetragen, andere werden grundsätzlich nur mit terroristischen Werkzeugen geführt, bleiben also deutlich unter Kriegsniveau.

Dennoch stellen gerade sie das größte Bedrohungspotential dar, denn der verhältnismäßig geringe Material- und Personalaufwand für die Konfliktführung könnte auch bislang stabile Staaten in eine Spirale von Gewalt und Abwehrmaßnahmen geraten lassen, die ein geschäftliches Engagement überdenkenswert werden lässt. Aktuell sind die Türkei oder Tunesien Beispiele für eine solche Entwicklung. In der Türkei ist vor allem die Vielzahl an parallel laufenden innerstaatlichen Konflikten besorgniserregend, mit denen der Staat konfrontiert ist und auf die er mit immer autoritäreren Maßnahmenreagiert. Diese führen vermehrt zu Gegengewalt und erudieren zunehmend rechtsstaatliche Grundprinzipien des Staates.

Ein bedeutsames Merkmal innerstaatliche Konflikte ist, dass viele Konfliktgruppen zu einem „marktkonformen“ Verhalten gezwungen sind: Sie sind ständig auf der Suche nach neuen Finanzquellen und müssen ihren Kampf so ökonomisch wie möglich organisieren.

Dadurch verwischen zunehmend die Unterschiede zu großen kriminellen Vereinigungen, die, wie in Mexiko und anderswo beobachtbar, stark an Einfluss gewinnen und so immer mehr zu politischen Akteuren werden. Politische Konflikte sind also einem permanenten Wandel in Form und Struktur unterlegen.

Politisch motivierte Gewalt wird weiter zunehmen

Die langfristigen Auswertungen aus Conias zeigen einen eindeutigen Trend: Die politisch motivierte Gewalt nimmt seit dem Ende des Kalten Krieges dramatisch zu. Dies liegt an den vielen schwachen Staaten, die sich vom Weg-fall der stabilisierenden finanziellen und militärischen Zuwendungen noch immer nicht erholen konnten und nun zum meist unfreiwilligen Tätigkeitsfeld oder Rückzugsgebiet vieler neu entstandener gewaltbereiter Gruppen werden.

Die gute Nachricht dabei ist aber: Nicht immer entsteht daraus eine Al Quaida oder ein Islamischer Staat. Die meisten dieser Gruppen werden regional begrenzt bleiben, ihnen kann ausgewichen werden. Doch für ein aktives Management politischer Risiken sind detaillierte, empirisch gesicherte Informationen unverzichtbar.

Dr. Nicolas Schwank, Geschäftsführer der Conias Risk Intelligence GmbH

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