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Konzept mit „Tunnelblick“

Das Sicherheitskonzept für den Betrieb des Gotthard-Basistunnels, dem längsten Eisenbahntunnel der Welt, ist eine Herausforderung der besonderen Art. Dafür zuständig: Hans-Peter Vetsch, Leiter Betrieb und Sicherheit bei der Bauherrschaft Alptransit Gotthard AG (ATG) in Luzern. Ein Besuch.

Weströhre des Gotthard-Basistunnels: bereit für den Einbau der Bahntechnik.
Weströhre des Gotthard-Basistunnels: bereit für den Einbau der Bahntechnik.

Das Büro ist klein, nur ein paar Quadratmeter groß und eng. Auf dem Pult stapeln sich Akten, die sagen, hier wird gearbeitet. Da ein Zugmodell, dort ein privates Bild, etwas weiter ein schlichtes Kartonmodell der beiden Gotthard-Röhren. Diese wurden erst kürzlich durchstochen: am 13. März dieses Jahres die Weströhre, bereits im Oktober 2010 die Oströhre. Nach der Fertigstellung wird der Gotthard-Basistunnel (GBT) mit 57 Kilometern (Weströhre 56,978 Kilometer, Oströhre 57,091 Kilometer) der längste Eisenbahntunnel der Welt sein. Mit allen Quer- und Verbindungsstollen werden insgesamt 151,8 Kilometer Tunnelstrecke angelegt, davon in jeder der beiden Röhren ein durchgängiges Gleis. Der Tunnel führt von Bodio im Tessin nach Erstfeld im Kanton Uri.

Hans-Peter Vetsch, Leiter Betrieb und Sicherheit, kennt nicht nur seinen Tunnel, sondern eigentlich alle großen Tunnels und Tunnelprojekte dieser Welt und er sagt: „Die Tendenz, immer längere Tunnels zu bauen, die besteht ganz klar. Denn heute hat ein größeres Eisenbahnprojekt, das nicht in den Boden verlegt wird, wohl kaum mehr eine Chance. Aber ich glaube, mit dem GBT haben wir in Bezug auf die Länge eine Grenze erreicht.“

Drei Teilstücke

Der GBT ist mit seinen zwei Nothaltestellen in drei 20 Kilometer lange Teilstücke unterteilt. Die Distanz von 20 Kilometern ist in den Sicherheitsrichtlinien der European Railway Agency (ERA) definiert. Bei der Festlegung der Maximallänge für Tunnels ohne Nothaltestellen spielten die Notlaufeigenschaften des Rollmaterials eine bedeutende Rolle. Eine Garantie von 20 Minuten Notlaufeigenschaft bei Vollbrand und einer Geschwindigkeit von 80 Kilometern/Stunde ermöglicht somit eine sichere Fahrt in die nächste Nothaltestelle und damit eine Selbstrettung der Passagiere. Wenn nun zu den fast 60 Kilometern Länge am Gotthard weitere 20 Kilometer-Abschnitte angehängt werden, steigt die Wahrscheinlichkeit eines Haltes zwischen den Nothaltestellen, was das Gefahrenpotenzial stark erhöht.

Die Nothaltestellen sind aber keine „Erfindung der Schweizer“, sondern sie wurden bereits beim 53,9 Kilometer langen Seikan-Tunnel in Japan realisiert. Zusammen mit den Querschlägen bilden sie die Grundlage des Sicherheitskonzepts, das in erster Linie auf die Ereignisverhinderung baut. „Prioritär wollen wir mit der Profilkontrolle und der Zugkontrolleinrichtung verhindern, dass ein defekter Zug (Festbremsen und Heißläufern) in den Tunnel einfahren kann“, erklärt Vetsch Punkt 1 des Sicherheitskonzeptes. Punkt 2 umfasst die Ausmaßminderung und beinhaltet die Nothaltestellen, in denen in den ersten 15 Minuten nach einem Alarmfall alles automatisch abläuft. Damit wird Punkt 3, die Selbstrettung vorbereitet.

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Und auch wenn die Feuerwehren (Fremdrettung) erst an vierter und letzter Stelle im Konzept auftauchen, sie sind nicht minder wichtig. „Wir brauchen keine Hero-Leistungen, denn in erster Linie geht es bei den Feuerwehren im GBT darum, die Selbstrettung zu unterstützen und defekte Züge aus den Tunnels zu schleppen.“ Und wie effektiv diese Arbeit von den Feuerwehren erledigt wird (Zielvorgabe ist innerhalb von 90 Minuten), dokumentiert Vetsch mit der Frage: „Oder haben Sie schon oft von länger blockierten Reisenden in Schweizer Eisenbahntunnels gehört?“

Brand im Simplontunnel

Im Sommer dieses Jahres brannte im Simplontunnel ein Güterzug. Der Tunnel musste gesperrt werden, verletzt wurde niemand. Solche Ereignisse machen Vetsch natürlich hellhörig. Er hat in den letzten 20 Jahren alle Tunnelunfälle und weitere größere Verkehrsunfälle, darunter auch Flugzeugunglücke analysiert und stellt sich dann, wenn die Unfallursache klar ist, immer dieselben Fragen: „Könnte das bei uns auch passieren. Haben wir die richtigen Vorkehrungen getroffen, damit so etwas im GBT nicht passieren kann?“

Es ist eine große Verantwortung, die Vetsch den ganzen Tag mit sich herumträgt und das, ohne dass noch je ein Zug durch den Tunnel gefahren ist. Wie geht er damit um? „Ich weiss nicht, wie ich mit einem Unfall mit Personenschaden im GBT werde umgehen können. Aber ich versuche alles zu unternehmen, damit ich in einem allfälligen Verfahren sagen kann, ich habe zu dem Zeitpunkt, als ich diese oder jene Entscheidung treffen musste, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Das Schlimmste für mich wäre, wenn ich mir Fahrlässigkeit vorwerfen müsste.“

Vetsch und seine Kollegen aus Europa und der ganzen Welt treffen sich periodisch in Fachgruppen zum informativen Austausch. Wichtig dabei sei, erklärt Vetsch, „dass wir über alles reden können, weil kein Protokoll erstellt wird und so politische Überlegungen in den Betrachtungen keine Rolle spielen“. Natürlich stellt sich auch immer wieder die Frage, wie können Eisenbahntunnels noch sicherer werden. Vetsch vertritt klar die Ansicht, dass sich Züge immer mehr der Flugzeugtechnik annähern müssen, das heißt, dass ein Zug seinen Zustand während der Fahrt permanent selbst überwacht (zum Beispiel Räderkontrolle, Branddetektoren), „denn der Tunnel an sich ist nur in ganz seltenen Fällen der Unfallauslöser.“

Terroranschläge ausblenden

Obwohl der GBT allein dadurch, dass er der längste Eisenbahntunnel der Welt ist, auch für Terroranschläge von Interesse sein könnte, werden diese in der Risikoanalyse ausgeblendet. Die Eingänge sind überwacht und gegen Sabotage werden auch Maßnahmen ergriffen. „Aber gegen Terroranschläge haben wir kein adäquates Mittel, außer wir würden die Passagiere vor der Einfahrt in den Tunnel wie Flugpassagiere kontrollieren.“

Der Leiter Betrieb und Sicherheit gibt aber zu bedenken, dass nur zertifizierte Bahnunternehmen den Tunnel befahren dürfen und dass sie für die Sicherheit in ihren Zügen zuständig sind. „Wir als Infrastrukturbauer müssen die Bahnunternehmen instruieren. Das Aussteigen in den Nothaltestellen und das Bewegen der Personenflüsse muss das Bahnunternehmen bewerkstelligen. Wir haben ein Schulungskonzept und verlangen von den Bahnunternehmen, dass sie dies umsetzen und einhalten.“

Zwei „Worst-Case“-Szenarien

Durch die beiden neuen Gotthard-Röhren werden voraussichtlich pro Tag 300 Züge, davon 60 bis 70 Reisezüge mit durchschnittlich 500 Personen mit einer Geschwindigkeit von 200 bis 250 Kilometern/Stunde brausen. Um den Betrieb dereinst aufrecht zu erhalten, werden rund um die Uhr drei Personen im Einsatz stehen. Für Vetsch gibt es zwei „Worst-Case“-Szenarien, die es um jeden Fall zu verhindern gilt: Brand eines Reisezuges, der nicht mehr in die Nothaltestelle kommt oder ein Giftgasunfall (Chlorgas) eines Gütertransportes. Vetsch ist sich bewusst, dass immer ein Restrisiko besteht. Er ist sich aber auch sicher, dass für den Betrieb des GBT alles unternommen wurde, um dieses Restrisiko so klein wie möglich zu halten. Dafür hat er bis jetzt gut die Hälfte seiner 20-jährigen Tätigkeit bei der ATG investiert.

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