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Öffentliche Sicherheit 15. Dezember 2022

Modulare Lagebildsysteme zum Schutz maritimer Infrastrukturen

Der Schutz maritimer Infrastrukturen rückt stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Geeignete Lagebildsysteme können diesen Schutz gewährleisten.

Mit Hilfe geeigneter Lagebildsysteme den Schutz maritimer Infrastrukturen gewährleisten: Hier wird der Hafen mit Instrumenten und Kommunikationssystemen instrumentiert.
Mit Hilfe geeigneter Lagebildsysteme den Schutz maritimer Infrastrukturen gewährleisten: Hier wird der Hafen mit Instrumenten und Kommunikationssystemen instrumentiert.

Die beobachteten Sabotageakte an den Ostseepipelines oder auch die Sichtbarkeit der europäischen Abhängigkeit von globalen Energielieferketten vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges haben der Öffentlichkeit vermehrt die Relevanz des Schutzes maritimer Infrastrukturen vor Augen geführt. Für Kenner der maritimen Branche waren diese Ereignisse und die Komplexität der Materie nicht überraschend, sondern Teil einer komplexen Aufgabenstellung, der sich Betreiber und Behörden seit Jahrzehnten stellen müssen. Je nach Segment der Branche (zum Beispiel Schifffahrt, Offshore Windenergie, Unterseekabel) ergeben sich Anforderungen aus nationalen oder internationalen Vorgaben, welche die jeweiligen Betreiber verpflichten, Maßnahmen zur Risikominimierung einzuführen und umzusetzen.

Maritime Infrastrukturen: Neue Gefahrenquellen

Nichtsdestotrotz sehen sich Betreiber und Behörden in Deutschland mittlerweile auch vermehrt einer als realistisch anzusehenden Gefahr von Angriffen durch staatliche oder staatlich unterstütze Akteure ausgesetzt. Dies bedeutet, dass mit Angriffen zu rechnen ist, die zum Teil mit umfangreichen Mitteln durchgeführt werden können. Gleichzeitig reicht die Bandbreite der zu erwartenden Auswirkungen von kurzfristigen und leichten Unterbrechungen in der Zuverlässigkeit unserer Infrastrukturen bis hin zu schwerwiegenden Störungen in der Verfügbarkeit dieser.

Die Schutzkonzepte der Häfen beispielsweise sind unter anderem auf die Abwehr von Terrorismus, die Verhinderung von Einfuhrschmuggel und Diebstähle ausgelegt. Es gilt nun, die vorhandene Erfahrung, Ausbildung und Ausrüstung der Betreiber und Behörden so anzupassen und zu erweitern, dass unsere Gesellschaft weiterhin mit dem zuverlässigen Funktionieren der Häfen, aber auch beispielsweise der geplanten LNG-Terminals und Offshore-Windparks, rechnen kann.

Modulares Lagebildsystem erfasst Ist-Zustand

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Am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) in Bremerhaven forscht man daher daran, wie sich maritime Infrastrukturen besser schützen lassen und wie sie resilienter werden können. Ein Teil dieser Forschung am DLR-Institut für den Schutz maritimer Infrastrukturen beschäftigt sich mit der Entwicklung innovativer Lagebildsysteme. Um zu verstehen, in welchem Schutzzustand sich die betrachtete Infrastruktur aktuell befindet, benötigt es angemessene Sensoren und Instrumente zur Erfassung des Ist-Zustands. Das umfängliche Verständnis der Infrastruktur sowie daraus resultierende Modelle erlauben es darüber hinaus, nicht nur die aktuelle Situation in geeigneter Weise zu verstehen, sondern auch Vorhersagen zu treffen, welche weiteren Verläufe sich ergeben könnten und was diese für den Sicherheitsstatus der Infrastruktur bedeuten würden – somit entstehen intelligente Lagebilder, welche ihren Nutzern wertvolle Informationen für ihre sicherheitsrelevanten Aufgaben bieten.

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Technologie für mehr Sicherheit

Konkret bedeutet dies aus technologischer Sicht den Aufbau von weiträumigen Multisensor-Netzwerken, welche Daten echtzeitnah prozessieren, daraus relevante Informationen ableiten und diese in angemessener Weise zur Verfügung stellen. Im Projekt „Marlin“ (Maritime Awareness Realtime Instrumentation Network) wird ein solches Multisensor-Netzwerk entwickelt und aufgebaut. Dabei wird ein modularer Ansatz verfolgt. Letztlich soll somit ein Systembaukasten entstehen, aus dem unterschiedliche Nutzergruppen passende Module für ihre individuellen Einsatzzwecke auswählen können. Marlin soll somit nicht ein einzelnes maritimes Lagebildsystem werden, sondern die Basis bilden für eine Vielzahl individuell nutzbarer Lagebildsysteme.

Bislang haben die Forschenden sowohl unterschiedliche kommerzielle als auch selbstentwickelte Instrumente integriert, welche diverse optische, funkbasierte und Sonarsysteme einschließen. Neben statischen kommen auch dynamische Instrumente zum Einsatz, beispielsweise auf unbemannten Luft- und Unterwasserfahrzeugen. Die Verarbeitung der Messdaten nutzt unter anderem Methoden aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz. So können Auffälligkeiten oder ungewollte Ereignisse automatisiert erkannt und im Lagebild visualisiert werden – entweder klassisch im Lageraum oder auf mobilen Endgeräten. Die Forschenden beschäftigen sich darüber hinaus mit der Cybersicherheit des Systems sowie dessen Integrität, um ein sicheres und verlässliches Lagebild zu bieten.

Gefahren im Hafen

Die Idee eines universellen Lagebildsystembaukastens ist seit Beginn des Projekts Marlin das, was die Forschenden antreibt und das Design ihrer Entwicklungen vorgibt. Nichtsdestotrotz bedarf es konkreter Anwendungsfälle, um ein solches System initial aufzubauen und zu erproben. Vor zwei Jahren fand eine erste Technologiedemonstration vor den Türen des Instituts im Bremerhavener Fischereihafen statt. Hierbei wurde ein Safety-Szenario herangezogen: Auf einem Boot wurde ein Brand simuliert. Das System stellte daraufhin automatisch fest, dass etwas mit dem Boot nicht stimmte und schlug Alarm. Die Havarie wurde daraufhin mit unterschiedlicher Sensorik untersucht, um Rettungsdiensten wertvolle Informationen zukommen zu lassen. Kürzlich fand die zweite Technologiedemonstration im Hafen Nordenhams statt. Diesmal wurde ein Security-Szenario adressiert, bei dem es um den Schutz eines Gefahrguttransports ging. Störungen von der Land- und Seeseite sowie dem Eindringen von Flugdrohnen wurde begegnet. Das Szenario beinhaltete zudem Untersuchungen unter Wasser, unter anderem mittels Veränderungsanalysen. So lassen sich beispielsweise potenzielle Gefahren an den Strukturen im Wasser erkennen oder auch Objekte, die sich unter Wasser dem Einsatzgebiet nähern.

Mit den gewonnenen Erkenntnissen aus der aktuellen Technologiedemonstration und der vorausgegangenen Forschung war es möglich, konkrete Ziele für Folgeprojekte zu identifizieren und neue Forschungsfragen zu formulieren. Der Schutz Kritischer Infrastrukturen stellt nicht nur im maritimen Umfeld eine wichtige Aufgabe für die kommenden Jahre dar. Die gute Kooperation zwischen Forschung, Betreibern und Behörden im Rahmen des Projekts hat gezeigt, dass sehr gute Ergebnisse in kürzester Zeit erreicht werden können, wenn Bedürfnisse und Fähigkeiten regelmäßig iteriert und aufeinander abgestimmt werden. Dieses gemeinsame Vorgehen wird daher im gesamten Bereich der Sicherheits- und Verteidigungsforschung des DLR betrieben mit dem Ziel, durch die Forschung einen Beitrag zur Sicherheit unserer Gesellschaft zu leisten.

Modularer Systembaukasten für Lagebilder

Innerhalb des Marlin-Systems finden in drei Systemebenen unterschiedliche Module zueinander:

  1. Sensoren, Instrumente und Instrumentplattformen,
  2. datenverarbeitende Systeme und
  3.  Systemkomponenten zur Visualisierung der gewonnenen Information sowie zur Steuerung des Gesamtsystems durch die Anwender.

Die einzelnen Systemkomponenten, wie beispielsweise ein spezielles Beobachtungsinstrument oder eine spezielle Kette von Datenverarbeitungsprozessen, sind hierbei so als Module realisiert, dass sie durch eine geeignete Wahl der Schnittstellen untereinander Daten austauschen können.

Die Vielzahl und Heterogenität der verwendeten Systemkomponenten (es kommen sowohl kommerzielle Systeme unterschiedlicher Hersteller als auch im DLR entwickelte Systeme zum Einsatz) stellt hierbei eine besondere Herausforderung an die Entwicklung des Gesamtsystems dar. Zudem soll das Ergebnis bestehende Lagebildsysteme nicht zwangsläufig ersetzen, sondern das Design strebt eine Integration in diese an beziehungsweise bietet eine parallele Verwendung an, sollte das ursprüngliche System den neuen Informationsquellen gegenüber verschlossen bleiben. Um dies und die kontinuierliche Erweiterung des Funktionsumfangs zu ermöglichen, wird auf die Nutzung von Webservices gesetzt. Das Lagebild steht dem Nutzer dann wahlweise im klassischen Lageraum oder auf mobilen Endgeräten zur Verfügung.

Instrumente und Sensorplattformen

Die bisher von den Wissenschaftlern integrierten Systeme schließen sowohl kommerziell verfügbare Systeme unterschiedlichster Anbieter als auch innerhalb des DLR entwickelte, neuartige Systeme mit ein. Sensorseitig werden Tag- und Nachtsichtkameras sowie spezielle, „Range-Gated-Viewing“-Systeme verwendet, die es erlauben, bei schlechter Sicht, wie beispielweise im Nebel, kontrastreiche Bilder zu erzeugen. Weiterhin kommen bisher das in der Seefahrt genutzte Automatic Identification System, elektrooptische Entfernungsmesssysteme und diverse Sonartechnologien zum Einsatz. Neben statischen Systemen bieten diverse Sensorträger die Möglichkeit, die Instrumente dynamisch einzusetzen. Hierbei kommen Flugdrohnen, Messfahrzeuge, Laufroboter sowie autonome und ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge zum Einsatz. Der Systemumfang wird kontinuierlich erweitert.

Künstliche Intelligenz für Assistenzsysteme

Die Analyse der Messdaten hin zu bedeutungsvoller Information nutzt unter anderem Methoden aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz, genauer gesagt des maschinellen Lernens. Dies erlaubt die automatisierte Detektion und Klassifikation von relevanten Objekten, aber auch die Detektion von Anomalien in den betrachteten Szenen. Immer, wenn die genutzte Datenquellen es prinzipiell erlauben, werden erkannte Objekte und Kandidaten für Anomalien und besondere Ereignisse georeferenziert, sodass sie in einer entsprechenden Kartenanwendung angezeigt werden können – diese kann dabei klassisch in 2D angezeigt werden oder auch 3D-Daten nutzen.

Assistenzsysteme sowohl in den visualisierten Datenströmen der einzelnen Instrumente wie auch in der globalen Kartendarstellung weisen durch entsprechende Marker und Icons darauf hin, wenn ein ungewünschtes Ereignis droht einzutreten oder die Möglichkeit einer Anomalie besteht. Zwar wird in der Entwicklung des Lagebildsystems ein hohes Maß an Automatisierung innerhalb des Systems angestrebt, doch stets mit dem Zweck, dass letztlich nur dem Nutzer assistiert werden soll und dieser aufgrund seiner Erfahrungen die Entscheidungen für weitere Maßnahmen treffen kann.

Carl Wrede, stellvertretender Institutsleiter des DLR-Instituts für den Schutz maritimer Infrastrukturen;  Dr. Maurice Stephan, Abteilungsleiter Maritime Sicherheitstechnologien am DLR-Institut für den Schutz maritimer Infrastrukturen 

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