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IT-Sicherheit 15. Januar 2024

Verdachtsunabhängige Massenüberwachung 

Schweizer Geheimdienste räumen verdachtsunabhängige Massenüberwachung ein. Geheimdienstliche Fernmeldeaufklärung wahrte die Grundrechte nicht wie erwartet. 

Eine verdachtsunabhängige Massenüberwachung der Bevölkerung durch schweizerische Geheimdienste ist nun zulässig.
Eine verdachtsunabhängige Massenüberwachung der Bevölkerung durch schweizerische Geheimdienste ist nun zulässig.

Noch 2016 hat die Bundesregierung beim Beschluss des Nachrichtendienstgesetzes (NDG) versichert, dass es eine verdachtsunabhängige Massenüberwachung der Bevölkerung nicht geben werde. Die geheimdienstliche Fernmeldeaufklärung sollte die Grundrechte der Bürger besser wahren als etwa in den USA. Das gilt jetzt als widerlegt. Schweizerische Geheimdienste überwachen nun verdachtsunabhängig Telekommunikation und das flächendeckend. Nicht einmal die Kommunikation von Patienten mit Ärzten ist tabu für die „strategische Fernmeldeaufklärung“ (“Sigint").

Das zeigen vom Verein Digitale Gesellschaft veröffentlichte Stellungnahmen des Schweizer Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) und des neuen Zentrum Elektronische Operationen (ZEO). Sie belegen, dass die in der Alpenrepublik durchgeführte „Kabelaufklärung“ ein Programm verdachtsunabhängiger Massenüberwachung ist. Das militärische ZEO ist auf digitale Überwachung spezialisiert und arbeitet sowohl dem Militärischen Nachrichtendienst (MND) als auch dem zivilen NDB zu.

Massen auch im Inland verdachtsunabhängig überwacht

Die Digitale Gesellschaft klagt schon seit Jahren gegen die erweiterten NDB-Befugnisse. Das Bundesverwaltungsgericht prüft gegenwärtig, ob das schweizerische Sigint-System tatsächlich die Grundrechte der Betroffenen angemessen wahrt. In den wenigen Gerichtsunterlagen, die nicht von vornherein als Verschlusssache eingestuft worden sind, räumt der NDB ein, dass komplette Glasfasern (Ebene 2 auf dem OSI-Netzwerkmodell) abgegriffen und dabei erlangte Daten ausgewertet werden. Weitere Erklärungen des dem Geheimdienst übergeordneten Verteidigungsministeriums bestätigen, dass die inländische Kommunikation nicht tabu ist. Dabei hatten die NDG-Befürworter immer wieder beteuert, Schweizer Bürger würden weder im In- noch im Ausland überwacht.

Überwachung beginnt mit Abgriff der Daten

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So war und ist etwa von „Fasern nach Syrien“ die Rede, die gezielt überwacht werden. Das sei aber mit den Notwendigkeiten des Internetroutings gar nicht vereinbar, erklärte Fredy Künzler, Geschäftsführer des Winterthurer Providers Init7, gegenüber dem Magazin Republik, das die Gerichtsdokumente als erstes auswertete und nachbohrte. Zudem fehle jegliche Unterscheidung, „ob es sich um Kommunikation von Personen handelt, die einem Berufsgeheimnis unterstehen“, moniert die Digitale Gesellschaft. Im Klartext: Die besonders geschützte Kommunikation etwa von Journalisten, Anwälten oder Ärzten landet mit im großen Topf für die weitere Durchsuchung. Den Klägern zufolge unterschlägt der Bund zudem, dass die Überwachung und damit der Eingriff in die Privatsphäre bereits mit dem Abgriff der Daten beginnt – und nicht erst mit der Weitergabe von Daten durch das ZEO der Schweizer Armee an andere Geheimdienste.

Riesige Datenhalde

Ein weiteres Eingeständnis ist die Möglichkeit sogenannter Retrosuchen. Datenströme aus dem Internet werden also nicht nur in Echtzeit nach vordefinierten Stichwörtern und anderen Suchbegriffen wie Nummern oder E-Mails (Selektoren) durchsucht, sondern auch in einer Datenbank aufbewahrt. Die Digitale Gesellschaft spricht von Vorratsdatenspeicherung durch den Geheimdienst, sodass dieser etwa Chats, Mails und Suchanfragen nachträglich durchsuchen könne. Um welche Datenmengen es sich handelt, welche Verbindungen konkret betroffen sind und wie Filter funktionieren, liege bislang völlig im Dunkeln. Der NDB erklärte dazu 2022 nur: Es liege in der Natur eines Aufklärungsauftrags, „dass sich bestimmte erfasste Signale und Daten erst im Nachhinein“ als relevant herausstellten.

Laut dem Republik-Bericht fallen etwa die großen Zugangsanbieter Sunrise, Swisscom und Salt unter die Sigint-Pflicht. 2023 habe der NDB Schritte unternommen, um die elektronische Überwachung weiter auszubauen. So erhielten inzwischen auch kleinere Unternehmen wie Init7 Aufforderungen, ihre Infrastruktur auf das Anzapfen ihrer Leitungen vorzubereiten. Der Geheimdienst und das ZEO gingen dafür direkt auf Schweizer Firmen zu, die selber gar keinen grenzüberschreitenden Datenverkehr anbieten.

Datenstaubsauger verfassungswidrig

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht den vom Bundesnachrichtendienst (BND) verwendeten Datenstaubsauger im Nachgang der Snowden-Enthüllungen zwar für verfassungswidrig erklärt. Der Bundestag hielt das Instrument aber prinzipiell für unverzichtbar. So dürfen deutsche Spione aktuell 30 % der Internetkommunikation weltweit anhand von Selektoren durchsuchen, obwohl die Ergebnisse trotz Tausender eingesetzter Suchbegriffe oft mau sind.

Dieser Beitrag wurde zuerst bei heise online veröffentlicht.

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