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Öffentliche Sicherheit 13. April 2023

Krisenmanagement in der Ukraine: Nuklearen Ernstfall vorbereiten

Experten des KIT unterstützen das Krisenmanagement in der Ukraine, um das Land auf einen möglichen nuklearen Ernstfall vorzubereiten.

Die Kraftwerksblöcke in Saporischschja – Experten des KIT unterstützen das Krisenmanagement in der Ukraine, um das Land auf einen möglichen nuklearen Ernstfall vorzubereiten.
Die Kraftwerksblöcke in Saporischschja – Experten des KIT unterstützen das Krisenmanagement in der Ukraine, um das Land auf einen möglichen nuklearen Ernstfall vorzubereiten.

37 Jahre nach Tschernobyl und 12 Jahre nach Fukushima ist durch den Krieg in der Ukraine die Angst vor einem nuklearen Ernstfall groß wie nie; Wolfgang Raskob (ehemaliges Mitglied der Abteilung) und Sadeeb Simon Ottenburger vom Karlsruher Institut für Technologie - Institut für Thermische Energietechnik und Sicherheit (ITES), forschen in der Abteilung „RESIS“ zur Resilienz Kritischer Infrastrukturen und unterstützen das Krisenmanagement in der Ukraine.

Es gibt in der Ukraine 15 Atomreaktoren an vier Standorten. Wie ist aktuell deren Zustand?

Wolfgang Raskob: Die Kraftwerksblöcke in Saporischschja sind alle abgeschaltet, zwei werden im Anlagenzustand „Unterkritisch-heiß“ noch zur Erzeugung von Wärme für die Gebäude genutzt. Alle Kraftwerke dort können durch lokale Dieselgeneratoren mit Strom für die Abführung der Nachzerfallswärme gekühlt werden oder durch die bestehende Ankopplung an das Stromnetz. Aus Sicht des Notfallschutzes ist der abgeschaltete Zustand der beste in einer solchen Krisensituation.

Die Blöcke an den anderen drei Standorten sind alle in Betrieb (Stand 10.03.2023).

Stromausfall in der Ukraine

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Auch wenn ein Atomkraftwerk nicht beschädigt oder zerstört wird: Wie kommt es mit einem länger andauernden Stromausfall zurecht?

Wolfgang Raskob: Auch wenn ein Atomkraftwerk abgeschaltet wird, muss die „Nachzerfallswärme“ abgeführt werden. Die entsteht durch den Zerfall der Atome im Reaktorkern nach Abschaltung. Die erzeugte Wärme nimmt exponentiell ab. Jedes Atomkraftwerk hat Notstromdieselgeneratoren, die Strom für die Abfuhr dieser Wärme aus dem Kern bereitstellen, auch wenn alle Leitungen zum Stromnetz gekappt sind. Die Wärmeabfuhr ist kritisch für die ersten Stunden nach dem Abschalten, aber nach einigen Wochen ist das auch mit wenigen Generatoren machbar.

RESIS steht für Resiliente und Smarte Infrastruktursysteme. Was verbirgt sich dahinter?

Sadeeb Simon Ottenburger: In den letzten Jahren haben wir unsere Arbeiten zu „Entscheidungshilfesystemen für das Krisenmanagement“ und zur „Resilienz moderner Versorgungssysteme“ schrittweise gebündelt und einen griffigen Namen gesucht, und wir hoffen, mit RESIS auch gefunden.

Simulation für den nuklearen Ernstfall

Wie unterstützt aktuell RESIS die Ukraine?

Sadeeb Simon Ottenburger: Nach dem Unfall in Tschernobyl hat das KIT federführend ein System entwickelt - das JRODOS System (Java based Real-time Online Decision suppOrt System), das Entscheidungsträger dabei unterstützt, die Konsequenzen für die Bevölkerung bei solch einem Unfall möglichst gering zu halten: Müssen Häuser aufgesucht, Gebiete evakuiert oder Jodtabletten verteilt werden. JRODOS ist auch in der Ukraine installiert, und nach Kriegsbeginn haben wir weitere Schulungen durchgeführt und generell Hilfestellung bei Fragen und Problemen geleistet.

Seit Beginn des Krieges führen wir am KIT zudem zu jeder Stunde eine „Was wäre wenn“-Rechnung für alle vier ukrainischen Standorte durch. Wir simulieren dann den Transport und die Ausbreitung der radioaktiven Wolke mit aktuellen Wetterprognosen für etwa 36 Stunden. Die Ergebnisse, das heißt Karten mit Gebieten radioaktiver Kontamination, übermitteln wir einmal täglich für den mitternächtlichen Berechnungslauf an die ukrainische Regulierungsbehörde (SNRIU), den Kraftwerksbetreiber (Energoatom) und das Notfallzentrum (Hydromet).

Auch Firmen, die Gefahrstoffe lagern, könnten bald zur Kritischen Infrastruktur gezählt werden. Sie würden damit umfangreichen Dokumentations- und Meldepflichten unterliegen .
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Welche Szenarien werden von Ihnen durchgespielt?

Sadeeb Simon Ottenburger: Wir nutzen einen Quellterm – also das ist die Menge an Radioaktivität, die in die Atmosphäre freigesetzt wird, den ukrainische Experten im Rahmen eines EU-Projekts für einen schweren Unfall entwickelt haben.

Wie lassen sich die Folgen eines nuklearen Unfalls überhaupt abschätzen?

Wolfgang Raskob: Eine schwierige Frage. Mit mathematischen Modellen kann man den Transport und die Ausbreitung der radioaktiven Stoffe wie Cäsium oder Jod in der Umwelt, also in der Atmosphäre, im Wasser sowie im Boden und Pflanzen, beschreiben. Ergebnisse dieser Berechnungen sind Kontaminationen, also die Menge an Radionukliden in diesen Bereichen der Umwelt, und daraus abgeleitet die Dosisbelastung der Bevölkerung durch interne – also durch Einatmen der Radionuklide – Kontamination oder externe Bestrahlung während des Vorbeizuges der radioaktiven Wolke oder durch auf den Boden abgelagerten Radioaktivität. Diese abgeleiteten Dosen werden dann mit Grenzwerten verglichen, um Maßnahmen wie Evakuierung oder Verteilung von Jodtabletten zu initiieren.

Die größte Unsicherheit dabei ist der Quellterm – also was wird wirklich freigesetzt – und das Wetter – wohin treibt der Wind die radioaktiven Luftmassen.

Rechtzeitig Maßnahmen einleiten

Sie erwähnten kurz das Echtzeit-Entscheidungsunterstützungssystem JRODOS. Könnten Sie es bitte etwas ausführlicher beschreiben?

Wolfgang Raskob: JRODOS kombiniert Simulationsmodelle für alle oben beschriebenen Prozesse in einem System und stellt die Ergebnisse zur Unterstützung der Entscheidungsträger bereit. Das sind also ein atmosphärisches Ausbreitungsmodell, aquatische Modelle, Nahrungskettenmodelle, Dosismodelle und Impactmodelle. Mit dem System können auch Maßnahmenstrategien durchsimuliert werden, also welche Entscheidung minimiert die Dosisbelastung der Bevölkerung. Eingangsdaten sind der bereits genannte Quellterm und die aktuellen Wetterprognosen der nationalen Wetterdienste. Ergebnisse, dann Karten der prognostizierten Kontamination und Dosen. Ich betone das mit der Prognose hier, da Maßnahmen wie eine Evakuierung schon vor dem Eintreffen der kontaminierten Luftmassen durchgeführt werden sollten, bevor es konkrete Messungen gibt.

Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine – für wie wahrscheinlich halten Sie einen nuklearen Ernstfall?

Wolfgang Raskob: Er liegt immer im Bereich des Möglichen, nicht so sehr für Saporischschja – solange die Blöcke nicht wieder hochgefahren werden. Die Blöcke dort sind auch relativ modern und robust. Bei den laufenden Anlagen gibt es aber zwei Kraftwerke des alten VVER-440 Typs ohne Beton Containment.

Spielt es dabei eine Rolle, ob es sich um einen gezielten Angriff auf ein Atomkraftwerk handelt oder um einen Kollateralschaden?

Wolfgang Raskob: Genau für diese beiden Anlagen kann schon ein Kollateralschaden, also eine ungezielte Rakete, zu starken Schäden führen. Bei Kraftwerken mit Beton Containment sollte eigentlich nur ein gezielter Angriff zur Zerstörung führen. Das ist zum Teil Spekulation, da diese Dinge nie wirklich untersucht wurden. In Deutschland wurden die Atomkraftwerke für den Absturz eines Starfighters ausgelegt, aber an Raketen hat niemand gedacht.

Krisenmanagement für Kritis

Nachdem RESIS Modelle und Konzepte für das Krisenmanagement erstellt: Sind diese auch von anderen Kritischen Infrastrukturen zu nutzen?

Sadeeb Simon Ottenburger: Davon sind wir überzeugt und forschen zum Beispiel zur Resilienz nachhaltiger Energie- und Verkehrssysteme oder an Frühwarnsystemen im Kontext überkritischer Belastungen von großen Staudämmen.

Wolfgang Raskob (ehemaliges Mitglied der Abteilung) und Sadeeb Simon Ottenburger vom Karlsruher Institut für Technologie - Institut für Thermische Energietechnik und Sicherheit (ITES), Abteilung „RESIS“

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