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Veränderte Gefahrenlage

Betreiber von Industrieanlagen und kritischen Infrastrukturen investieren in ihre Sicherheit. Denn in Folge der veränderten Gefahrenlage und eines gestiegenen Sicherheitsbewusstseins verschärfen die Aufsichtsbehörden ihre Anforderungskataloge. Das Resultat sind zeitgemäße Leitstellen, die die Bevölkerung und die Infrastrukturen schützen und Mitarbeiter entlasten.

Die Evonik-Einsatzleitstelle in Darmstadt/Weiterstadt: Informationsübermittlung und Verarbeitung auf einer einheitlichen Plattform, mit automatisierten Prozessen, die zuvor definiert im Alltag wie im Ernstfall greifen.
Die Evonik-Einsatzleitstelle in Darmstadt/Weiterstadt: Informationsübermittlung und Verarbeitung auf einer einheitlichen Plattform, mit automatisierten Prozessen, die zuvor definiert im Alltag wie im Ernstfall greifen.

In Leitstellen geht es in erster Linie um eines: rasch die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das Resultat der Entscheidungs-findung sind Maßnahmen, die unverzüglich umzusetzen sind – egal ob es sich um einen Brandfall in einem Pharmakonzern, einen Stoffaustritt in einem Chemieunternehmen oder einen versuchten Einbruch bei einem Automobilhersteller handelt. Stets übermitteln die Disponenten in der Leitstelle entscheidende Informationen an ihre Kollegen der Werkfeuerwehr oder des Werkschutzes, die die im Fachjargon „Ereignis“ genannte Gefahr möglichst rasch und effizient bannen sollen. Eine funktionierende Leitstelle hilft, Gefahren abzuwehren und rettet im Ernstfall Leben.

Uneinheitliche Strukturen

Umso erstaunlicher ist es, dass die Struktur und Organisation, aber auch die technologische Ausstattung von Leitstellen von Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) – wie Feuerwehr und Polizei – als auch von Leitstellen bei Industrieunternehmen völlig auseinanderklaffen. „Es gibt beinahe so viele Lösungen, wie es Leitstellen in Deutschland gibt“, erklärt Achim Hackstein vom im Jahr 2014 gegründeten Fachverband Leitstellen e.V. – und das trotz selbstverständlich vorliegender Verordnungen der Innenministerien und Aufsichtsbehörden.

In Deutschland regelt eine im Jahr 2010 eingeführte DIN-Norm die baulichen, technischen und betrieblichen Anforderungen an moderne Leitstellen. Und der vom Bundesinnenministerium im Jahr 2012 herausgegebene Leitfaden „Schutz kritischer Infrastrukturen. Risiko- und Krisenmanagement“ will Unternehmen und Behörden über Gefahren und Risiken sowie mögliche Maßnahmen informieren.

Mangelnder Austausch

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Der Fachverband Leitstellen e.V. kritisiert nicht nur die im föderalistisch organisierten Deutschland übliche Diversität in den Leitstellen, sondern auch die nicht einheitlich geregelte Ausbildungswege der Disponenten. „Es gibt zahlreiche sehr gute Lösungen und ebenfalls gute Ausbildungswege – aber in beidem sehen wir deutlich Luft nach oben“, so Hackstein. Der Fachverband setzt sich daher für einen intensiven Austausch zwischen den Leitstellen und für einen einheitlichen Ausbildungsweg und eine klare Formulierung des Berufsbildes des Disponenten ein.

Erstaunlicherweise besteht zwischen den Einsatzleitzentralen des BOS-Umfelds und den Leitstellen bei Industrieunternehmen bislang so gut wie kein fachlicher Austausch. Der Verbandsvorsitzende Hackstein betont, dass bislang noch kein Industrieleitstellenvertreter in die Verbandsarbeit mit eingestiegen sei. Das Interesse des Verbandes an einem Austausch sei aber definitiv gegeben.

Gefahrenlage erhöht

Während die Diskussionen um die Ausgestaltung der Leitstellen gerade erst losgehen, hat sich die Gefahrenlage in Deutschland mittlerweile auf hohem Niveau eingependelt. Terrorgefahren und gewalttätige Angriffe bilden im Ranking der aktuellen Bedrohungen zwar eine eher untergeordnete Rolle. Naturkatastrophen – verstärkt auch durch die klimatischen Verschiebungen –, technische Störungen und menschliches Fehlverhalten hingegen führen die Matrix klar an, so der Fachverband Leitstellen.

Die insgesamt hohe Gefahrenlage und ein gesteigertes Sicherheitsbewusstsein der Industrieunternehmen und in der Bevölkerung hat laut dem Leitstellenexperten Dr. Jens Hartmann von Lösungsanbieter Hexagon Safety & Infrastructure (vormals Intergraph SG&I) dazu geführt, dass die Anforderungen der Industrieunternehmen an ihre Sicherheitsprozesse gestiegen sind. Trend sei es, die verschiedenen Gewerke der komplexen Überwachungslandschaft zu vernetzen und in einer integrierten Industrieleitstellenlösung zusammenzuführen.

Integrierte Leitstelle

In der Vergangenheit sah die Leitstelle nicht selten so aus: Leitstellenmitarbeiter saßen vor verschiedenen Einzelrechnern und IT-Systemen, um Brand- oder Gasmelder, Zutrittskontrollsysteme oder die Videoüberwachung im Blick zu behalten und zusätzlich Notrufe in Empfang nehmen. Im Einsatzfall mussten die Mitarbeiter die Einsatzkräfte über weitere Einzelsysteme alarmieren sowie die verantwortlichen Stellen bei den Aufsichtsbehörden und im Unternehmen einzeln informieren.

Von dieser Arbeitsweise kommen laut Hartmann aber immer mehr Industriebetriebe ab: „Heute ist State of the Art, die Gewerke der Werksfeuerwehr und des Werkschutzes in einer integrierten Leitstelle zusammenzufassen und automatisierte Prozesse zu definieren und in Gang zu setzen. So wird ein hohes Maß an Qualität, Geschwindigkeit und damit Sicherheit für alle Beteiligten gewährleistet. Und die Disponenten erfahren in ihrer verantwortungsvollen Arbeit massive Unterstützung. Nicht selten wird auch ein modern ausgestattetes Lagezentrum in enger Vernetzung mit der Leitstelle aufgebaut, um für Großschadensereignisse optimal gerüstet zu sein.“

Beispielhaftes Chemieunternehmen

Ein Beispiel für eine moderne, zeitgemäße Lösung ist die im Jahr 2015 in Betrieb genommene Leitstellen-Verbund- und Informations-System beim Spezialchemieunternehmen Evonik. Dort hatte Hexagon Safety & Infrastructure als einer der namhaften Lösungsanbieter für Industrieleitstellen gemeinsam mit Partnern aus den Sparten Gefahrenmanagement (Advancis) und Sprachkommunikation (Frequentis) drei Werke in Darmstadt/Weiterstadt und Worms mit rund 3.000 Mitarbeitern in einer integrierten Leitstelle vernetzt. Alle physikalischen Sicherheitssysteme wie Brand- und Gaswarnmelder, Zutritts- und Wächtersysteme, Anlagen der Gebäudetechnik, Kameras und Kommunikations-, Alarmierungs- und Benachrichtigungssysteme wurden auf einer einheitlichen Plattform namens I/CAD zusammengeführt. Ziel war es, das Tagesgeschäft der Werksfeuerwehr zu optimieren und eine erhöhte Sicherheit im Ernstfall zu garantieren.

Beide Ziele wurden laut Einschätzung des Unternehmens vollständig erreicht. Dr. Armin Neher, Standortleiter von Evonik in Darmstadt/Weiterstadt, erläutert: „Die Vernetzung der beiden Standorte bedeutet für uns, alle sicherheitsrelevanten Informationen jederzeit an jeder Stelle vorliegen zu haben. Das entlastet die Mitarbeiter und erhöht die Sicherheit nach innen und außen. Auch wirtschaftlich ist die neue Leitstellentechnologie unsere erste Wahl – wir hätten deutlich Personal aufstocken müssen, um mit dem gestiegenem Sicherheitsbedürfnis mithalten zu können.“

Monika Rech-Heider

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